Generationen Un/Verständnis


Eene, meene, muh - und raus bist du

pro und contra und Epilog


PRO

 

Die "Kinder", wie Mutter sie nennt, sind schon im Rentenalter, und sie beschließen nach jahrelangem Zaudern, ihr Haus zu verkaufen. Eigentlich nichts Besonderes, sollte man meinen.

Aber die Kinder wohnen in ihrem Haus ganz hinten auf Mutters Grundstück. Und Mutter wohnt vorne im alten Elternhaus. Da man ja eine Familie ist und auch damals keine Genehmigung für eine zusätzliche Einfahrt bekam, gibt es nur diese eine Zufahrt zu ihre Haus, die an Mutters Haus und ihrer Laube vorbeiführt. Übers gesamte Grundstück.

Vor Jahren hat Mutter aus verschiedenen Gründen Haus und Grund auf die einzige Tochter überschreiben lassen. Ihr gehört also sozusagen alles.

Die grauhaarigen Kinder leiden schon lange unter dem Krach rundherum, dem Dreck, der Industrie, dem Schwerlastverkehr. Und auch der Garten, so schön er auch ist, ihrer und Mutters, frisst ihre Kraft und Energie auf. Mit ihrer Gesundheit steht es auch nicht zum allerbesten. Nichts besonderes, halt, was man so hat in dem Alter. Verschleiß, Herzklabaster, zu viel Cholesterin sowieso, Bluthochdruck. Und man wird doch auch etwas langsamer mit den Jahren. Man ist nicht mehr ganz so belastbar.

Jetzt soll direkt vor ihrer Nase zusätzlich noch ein weiterer Lärmbetrieb etabliert werden, der in Holland keine Genehmigung bekommen hat. Das hat das lange schwelende Fass zum Brennen gebracht.

„Mutter, wir ziehen hier weg. Wir verkaufen. Du kannst wohnen bleiben, oder du ziehst auch weg.“

 

Mutter ist schwerbehindert, besonders schwer gehbehindert, und sie hört nur auf einem Ohr noch etwas. Keinen Krach, nur noch das, was sie hören will. Ihr Haus ist tipptopp, aber halt auf kleinem Grund mit vielen Treppen, wie auch das Haus der Kinder. Sie kann nur äußerst mühsam laufen. Auf ebenem Boden. Treppen sind eine Qual. Sie läuft nirgendwo Treppen, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt. Nur in ihrem Haus. Das ist meine letzte Gymnastik, sagt sie. Ihr Wohn-Schlafbereich mit Fernseher, Musik und DVD ist oben, ebenso das Bad. Im Erdgeschoss ist ihr nicht genutztes "gute Zimmer" und noch ein paar Treppen tiefer die Wohnküche samt Haushaltsraum und ein ebenfalls nicht genutztes Bad.

Wie lange kann sie die Treppen noch bewältigen? Wie oft wird sie noch herunterfallen? Was wird beim nächsten Mal passieren? Welche Knochen werden beim nächsten Mal brechen?

Wie oft wird die Tochter sie noch komplett pflegen müssen rund um die Uhr?

Die Kinder sagen, sie braucht eine behindertengerechte Wohnung. Lange schafft sie das hier nicht mehr. Oder wir müssen das Haus umbauen lassen, weil sie nicht weg will. Aber dann wohnt sie hier mit fremden Leuten auf dem Grundstück, die ständig an ihrem Haus vorbei müssen, um zu ihrem Haus zu gelangen. Wir suchen ihr am besten eine schöne passende Wohnung, hell, Erdgeschoss oder mit Fahrstuhl und Balkon und schöne Aussicht. 'Vielleicht auf den Rhein. Den liebst sie doch so. Das Geld für den Verkauf des Hauses bekommt sie natürlich selber. Die Kinder wollen sich nicht bereichern. Sie wollen nur endlich weg.

Der Mann hat einen schlimmen Rücken. Dieses Jahr war es so schlimm, dass er absolut nichts im Garten tun konnte. Alles blieb an seiner Frau hängen. Auch Mutters Garten natürlich. Mit zig Rosenstöcken und zig anderen arbeitsintensiven Pflanzen und Blumen. Die Kinder lieben Blumen, Pflanzen sowieso. Sie haben auch den berühmten grünen Daumen. Aber es ist soviel Arbeit, dass manchmal zusammen mit dem Hexenschuss gleichzeitig so was wie Hass aufkommt.

"ICH WILL NICHT MEHR!"

Die Kinder wollen in ihrem letzten Drittel ein neues Leben anfangen. Frei und unabhängig. Endlich tun und lassen können, was sie wollen. Spontan sein können.

Solange sie es noch können.

Eine hübsche Wohnung in ruhiger Umgebung, kochen oder nicht kochen, nicht auf die Uhr gucken, öfters mal verreisen, einfach so. Ohne große Vorbereitungen, wer kümmert sich um Mutter, was koch ich vor? das Haus, die Pflanzen? Einfach die Türe hinter sich abschließen und gehen.

Es wird nicht leicht sein, auch für sie nicht. Die Tochter hat schließlich auch rund 55 Jahre hier gelebt. Sie haben geholfen, das Haus mit eigenen Händen zu bauen. Da steckt Herzblut drin und eine Menge Erinnerungen. Und zwei lädierte Rücken. Ihre Kinder sind hier aufgewachsen, die Mauern könnten eine Menge erzählen.

Auch die exotischen Pflanzen, die sie als kleine Babypflanzen gekauft haben, irgendwann, auch von ihnen müssen sie Abschied nehmen. Nein, es wird auch für die Kinder nicht leicht sein.

Und doch sind sie fest entschlossen.

Sie können nicht mehr.

Sie wollen Ruhe. Endlich Ruhe.

Der Mann hat ständig Herzrasen und Aussetzer, weil er den Krach nicht ignorieren kann.

Seine Frau wird eines Tages vielleicht auch morgens die Treppen herunterfallen, weil ihre Gelenke nach der Nachtruhe nicht so recht in Gang kommen. Und sie will nicht immer nur putzen, Aufträge abarbeiten, auf den Knien durch den Garten robben und die verschlissenen Gelenke belasten...

Sie haben einen Makler eingeschaltet. Es ist offiziell.

Und jeder schnappt nach Luft und sagt: Und Mutter? Das könnt ihr doch nicht tun!

Keiner, nicht einer außer ihren eigenen Kindern, fragt nach ihnen. Wie es ihnen geht. Ob sie noch können. Nur nach Mutter, der Guten.

Mutter ist zäh wie zehn preußische Generäle. Viel kranker, aber auch zehnmal zäher als ihre Kinder. Eine Zigeunerin hat ihr in frühen Jahren prophezeit, dass sie 93 Jahre alt wird. Und die Tochter, die ihre Mutter sehr genau kennt, weiß, dass es so sein wird. Wahrscheinlich wird sie ihre Tochter und den Schwiegersohn noch überleben. Denn die Tochter hat zwar die körperlichen Macken von ihr geerbt, aber sie ist aus weichem Holz geschnitzt, so wie ihr Vater. Und der ist jung gestorben.

Die Kinder haben ausführlich überlegt: irgendwann, sobald der erste von uns stirbt, wird sowieso verkauft. Keiner von uns will mit Fremden auf einem Grundstück so eng beieinander leben. Und ob wir dann, wann immer es sein wird, noch so fit sind, zwei Häuser auszuräumen und zwei Umzüge zu arrangieren? Wir haben ja heute schon so viele körperliche Macken und Alpträume bei den Gedanken daran, was da alles auf uns zukommt.

Nein. Wenn, dann jetzt.

Und Mutter?

Und wenn wir weiter weg sind von ihr?

Wer pflegt sie und besorgt ihr, was sie alles braucht? Mit wem isst sie zu Mittag? Wer reibt ihr abends den Rücken ein? Wer hört sich ihre Geschichten zum hundertvierzigsten Mal an?

Die Tochter quält sich mit dem Satz, den sie seit Jahren immer wieder gehört hat : Das könnt ihr später alles wieder gut machen.

Wie lange müssen sie noch gutmachen für Geschenke, die sie nie wollten? Wie lange noch?

Sie werden sich kümmern und jemanden finden. Jemand anderen.

Mit schlechtem Gewissen.

Wie lange müssen Kinder ihr Lebensglück hinter das ihrer Eltern stellen? Dürfen sie es überhaupt? Oder haben sie irgendwann auch ein Anrecht auf Egoismus? 

C O N T R A

 

 

Ich bin 83 Jahre alt. Und ich wohne hier in diesem Haus seit 73 Jahren.
Hier habe ich fast mein gesamtes Leben verbracht.
Alle meine Erinnerungen an früher, als mein Mann noch lebte, finde ich in diesem Haus, in diesen Mauern.
Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals hier raus müsste. Nie.
Ich habe Wohnrecht bis an mein Lebensende. Notariell verbrieft sogar.
Und jetzt das.
Ich bin schockiert.  

Aber ich will den Kindern keine Steine in den Weg legen.
Wenn sie gehen, gehe ich mit. Ich will um keinen Preis allein hier bleiben. Wer versorgt mich denn? Wer kümmert sich? Bei wem kann ich essen? Nein, ich gehe dann doch lieber mit ihnen.

Aber sie wollen alleine gehen. Ich soll nicht mit.
Ich soll eine eigene Wohnung haben, sagen sie. Behindertengerecht mit Fahrstuhl oder Parterre. Gott sei Dank muss ich nicht in ein Altenpflegeheim. Das ist mein schlimmster Alptraum.
Nein, eine schöne, helle Wohnung mit hübschem Ausblick soll es sein. Ich komm ja nirgendwo mehr hin. Und zu mir kommt ja auch keiner mehr.
Höchstens meine andere Betreuerin, die alle zwei Tage für ein paar Stunden da ist, die ehrenamtliche Frau vom Sozialdienst, Agnes, die alte Nachbarin, die Putzhilfe, der alte Bekannte, meine Montagsfreundin und die anderen Freundinnen, die aufgrund ihres Alters auch nur noch ganz sporadisch mal kommen. Aber sonst?
Wer kommt denn schon groß zu mir?

Da freue ich mich um so mehr, wenn mittags kurz vor eins das Telefon klingelt und ich rüber gehen kann zu meiner Tochter. Dann ist der Tisch schön gedeckt, ich kriege extra eine leichte Gabel, weil ich die schwere nicht halten kann, und ich kann lecker essen und erzählen. Meine Tochter kann soooo lecker kochen. Nirgendwo schmeckt es so gut wie bei ihr. Und darauf soll ich dann verzichten? Vielleicht Fertigessen, das sowieso nicht schmeckt, für viel Geld kommen lassen?

Na ja, mein Schwiegersohn zieht öfters ein Gesicht und sagt leise was, was ich nicht hören kann. Aber wem soll ich denn meine Geschichten von früher erzählen? Zu mir kommt doch keiner.

Und jetzt soll ich raus.
Diese Blamage.
Wie steh ich denn da vor den anderen?
Ich!

Als meiner Nachbarsfreundin das Gleiche passiert ist, erst vor ein paar Monaten, da hab ich gesagt, das täten sie mit mir nicht. Das würde ich mir nicht gefallen lassen. Und? habe ich gesagt, dann hast du eben Heizung und musst nicht mehr frieren. Aber dafür aus dem Haus raus, in dem du schon immer gelebt hast? Und wieso kann dein Schwiegersohn nicht mehr deinen Garten machen und die Reparaturen? I c h konnte in dem Alter noch alles und habe auch noch alles selber gemacht.

Ich habe alles versucht, die Kinder von dem Plan abzuhalten. Ich hab sogar meine Pillen abgesetzt. Ich hab gesagt: Ich will nicht mehr. Wenn ich keine Pillen mehr nehme, dann ist es vielleicht bald aus mit mir. Aber meine Tochter reagiert ganz anders, als ich dachte. Sie sagt doch glatt, wenn du die Pillen nicht nimmst, landest du wieder mit Blaulicht irgendwann nachts im Krankenhaus und hinterher geht es dir noch schlechter. Sie meint doch tatsächlich, ich habe noch zehn Jahre vor mir.

Bloß nicht. Ich kann doch so schon nicht mehr. Die Treppen fallen mir wirklich immer schwerer. Aber das sage ich nicht.
Und mit der Wohnung, der neuen. Ich habe schon gesagt, dass ich nicht im Erdgeschoss wohnen will, da sieht man nichts. Und ich komm ja nirgendwo mehr. Und meine Möbel nehme ich auch mit. Und meine Fotoalben und Bücher werden ja wohl irgendwo Platz finden. Lass ich eben jemand kommen, der mir Regale schreinert. Und ich muss auf jeden Fall auch mein Winter-Oberbett im Sommer aufhängen können und umgekehrt mein Sommer-Oberbett im Winter.
Ehrlich gesagt, bin ich beleidigt. So was von sauer. Ich hätte ja nie gedacht, dass sie es so ernst meinen könnten. Können sie nicht warten, bis ich tot bin?
Aber nein, sie sagen, die Vorstellung, auf meinen Tod zu warten wie die Spinne im Netz auf Beute lauert, die finden sie furchtbar. Und wenn sie älter sind, hätten sie keine Energie mehr, zwei Häuser und zwei Haushalte aufzulösen und neu zu beginnen.
Phh!

Als der Makler da war, das war ganz schlimm. Mir war richtig schwummrig. In dem Moment habe ich gemerkt, jetzt wird es wirklich ernst. Ich war höflich, aber sehr zurückhaltend. Ich habe ihm Auskunft gegeben über Baujahr und was er sonst noch so wissen wollte und habe ihn Bilder machen lassen. Von meiner Wohnung. Meiner Privatsphäre.
Ich glaube, das kann ich nicht verzeihen.
Morgen muss ich mir unbedingt eine Grippespritze geben lassen und neue Medikamente bestellen. Sonst werd ich noch krank davon.

Und wieso soll mein Haus nur so wenig wert sein? Es ist tausendmal besser als die andere Doppelhaushälfte, die gerade verkauft wurde. Es kommt auf die Grundstücksgröße an, sagt meine Tochter. Nebenan ist ein morsches Haus mit großem Grundstück. Du hast ein tolles Haus mit kleinem Grundstück, weil wir nämlich unser Haus darauf gebaut haben. Sagt sie. Zwei Häuser eben auf einem Grundstück.

Die können mir viel erzählen.

Ich will hier leben bleiben wie bisher.
Aber ich darf nicht.
Ich darf schon, aber ich kann nicht. Und ohne meine Tochter will ich auch nicht. Es war so schön. Zwar allein im Haus, aber nie allein. Und jetzt?
Womit habe ich das verdient? Sie haben doch nie Last mit mir gehabt, oder...?
Warum kann ich meine letzten Jahre nicht so weiterleben wie bisher? Die sind doch noch jung, die Kinder, warum können die nicht...
ich konnte doch auch noch...

Epilog:

 

 

Das ist lange her.

Wir sind nicht weggezogen. Wir sind geblieben. Und die Mutter auch. Bis kurz vor ihrem Tod. Als nichts mehr ging und der Notarzt den sehr nahen Tod diagnostizierte, kam sie wieder ins Krankenhaus – und wurde wieder entlassen. Weil sie sich wehrte gegen den Tod. Aber nach Hause konnte sie auch nicht mehr. Laufen ging gar nicht mehr. Ihr Körper war mehr tot als lebendig. In unser Haus konnten wir sie auch nicht nehmen, wir haben auch überall nur Treppen. Und ich bekam genau zu dem Zeitpunkt ein Schreiben, dass mein Brust-Screening einen Befund zeigt.

Ich war am Ende mit meinen Kräften.

Meine Mutter bekam einen Heimplatz. Das, was sie niemals im Leben wollte.

Sie wurde dement, ganz plötzlich und ganz krass. Vielleicht das Morphium im Krankenhaus, das ihr das Sterben erleichtern sollte. Unsere Kinder kamen von weither, um Abschied zu nehmen...

In den folgenden drei Monaten starb sie noch vier mal, bevor sie wirklich starb. Ich war immer bei ihr. Einmal verlangte sie nach einem Geistlichen. Es kam ein Katholik, Mutter war damals vor der Hochzeit konvertiert, aber im Herzen immer katholisch geblieben. Als der Geistliche sich quasi entschuldigte, dass „nur“ er kommt, fuhr sie ihn an: Glauben Sie wirklich, dass da oben zwei Brüder sitzen? Ist ja wohl egal. Er stutzte, so was Kiebiges hatte er an einem Sterbebett wahrscheinlich auch nicht erlebt. Aber er betete und las ihr schöne Psalme vor. Da schloss sie die Augen. Ganz friedlich. Er ging dann und sagte, ich komm in einer Stunde zurück. Und sah mich bedeutungsvoll an. Sollte heißen, wenn alles vorbei ist.

Kaum war er aus der Türe, als meine Mutter die Augen wieder öffnete. Frisch und ausgeschlafen.

Und als der Pastor wieder zurück kam und ungläubig die Augen aufriss, sagte sie ironisch zu ihm: Sind Sie immer so langweilig, dass die Leute bei Ihnen einschlafen?

Sie wurde auch dieses Mal wieder aus dem Krankenhaus entlassen.

In den vielen Stunden an ihren Betten im Krankenhaus und im Heim versuchte ich immer wieder, ihr das Loslassen zu erleichtern. Ich erzählte von meinem Vater, den sie so sehr geliebt hat. Der sie dort im Licht schon erwartet. Sie schaute ganz intensiv, aber dann sagte sie: ich kann ihn nicht sehen.

Und blieb.

Ich malte sanfte, glückliche Bilder vom Jenseits. Immer wieder. Wann immer sie sterben wollte..

Dann, am 4. Juli, einem glühend heißen Tag, ging es endgültig zu Ende. Der Anruf kam am frühen Sonntag Morgen. Ich betete nur noch: bitte, lieber Gott, lass es diesmal wirklich sein. Ich kann nicht mehr.

Es war Emmericher Kirmes. Auf dem Platz vor dem Heim, direkt unter ihrem Fenster, fand ein Gottesdienst statt, bevor die Prozession los zog. Die Schwestern hatten Mutter das feinste Batist-Nachthemd angezogen. Sie lag im Koma. Ich sagte: Hör mal, eine Messe direkt vor deinem Fenster. Ist das nicht schön? Hörst du die Musik?

Sie war ganz ruhig. Diesmal war sie ganz ruhig.

Stundenlang saß ich an ihrem Bett. Ganz leise sprach ich mit ihr, und ich wusste, sie versteht mich. Ihre flaschenförmigen Beine, die schwer wie Marmor gewesen waren in den letzten Wochen, waren wieder weich und dünn. Immer wieder kamen Schwestern, prüften die Farbe ihrer Fußgelenke und schüttelten den Kopf. Dauert.

Sie brachten mir Wasser und Essen. Draußen vor der offenen Balkontüre tobte der Bär. Und es war gnadenlos heiß. Irgendwann am Nachmittag wurden mir die Augen schwer. Immer, wenn ich auf dieses kleine Zucken in ihrer Halsbeuge guckte, fielen mir die Lider zu. Ich legte kurz meinen Kopf auf meine verschränkten Arme auf dem Bettgitter. In dem Moment, vielleicht Sekunden oder Minuten später, schreckte ich auf. Mutter schluckte, so wie früher, wenn sie ihre geliebte Milch in großen Schlucken trank. Ihre Zähne und Lippen färben sich rot – und das Zucken in ihrer Halsbeuge war weg.

Meine Mutter war tot.

Oder doch wieder nicht?

Ich versuchte, ihre Augenlider zu schließen, aber die Lider hoben sich wie von Geisterhand wieder hoch. Und sie starrte mich an.

Wieder und wieder legte ich ihr meine Hand auf die Augen, aber sie blieben weit offen.

Sie war noch da.

Ich schickte meinem Mann eine SMS, unseren Töchtern: Schneeweißchen ist nicht mehr.

 

Schneeweißchen hatten wir sie vor Jahren liebevoll getauft, weil sie schneeweiße Haare hatte und ihre eisige Haut, die einfach nicht ordentlich durchblutet wurde, auch immer schneeweiß war.

 

Unsere Älteste, die mit ihren Kindern am See schwimmen war, sagte später, in dem Moment, als Oma gestorben ist, hat es bei ihr in Hessen gedonnert. Aus heiterem Himmel. Und sie wusste, Oma ist oben angekommen und räumt schon auf.

 

Und unsere jüngste Tochter hatte zu der Zeit einen Wachtraum: Sie war hier bei uns zuhause unten im Keller mit seinen dunklen Ecken und Spinnen, da, wo die Stühle gestapelt sind. Sie hatte sich versteckt, und plötzlich kam Oma, jung, fit aber mit weißen Haaren. Unsere Tochter machte: psst, verrat mich nicht. Sie lächelte und nickte. Sie hielt ein Buch in der Hand.

Dann erschien ich plötzlich, und meine Tochter fragte: Warum ist denn Oma hier?

Ich:  Aber sie ist doch gar nicht hier.

Da ließ Oma das Buch fallen, drehte sich um und ging.

Unsere Tochter nahm das Buch auf und schaute auf den Titel:

Geliebte Tochter

 

 

 

Kommentare: 1
  • #1

    Conny und Achim (Sonntag, 27 Februar 2022 18:04)

    Hallo Christel,
    wir, Conny und Achim Krogull, haben deine Aufzeichnungen "Generationen Un/ Verständnis" gelesen und haben mit Erstaunen festgestellt, das ist eins zu eins unsere Geschichte.
    Geplant, gepflegt, gehofft, verzweifelt, gelitten, gefühlt unsere Zeit läuft davon....
    2020, "Oma", 95 Jahre alt, ist gestorben. Nun konnten wir endlich unser Vorhaben umsetzten. Auch schon im Rentenalter aber noch rechtzeitig, wir haben alles verkauft und sind weggezogen. Unsere Kinder haben geholfen, zwei Haushalte aufzulösen, ausmisten, Ballast abzuwerfen und daß Wichtigste mitzunehmen. Uns geht's gut, wir sind frei.
    Danke für eure Erinnerungen, besser und treffender hätten wir es nicht schreiben können. Einen lieben Gruß,
    Achim und Conny Krogull

Liebe Conny, lieber Achim,

ich freue mich sehr über eure Resonanz, leider habe ich sie erst jetzt gesehen.  Unsere Mütter waren schon etwas Besonders, nicht wahr? Unheimlich stark und zäh. Und eigenwillig. Tolle Frauen. Sehr anstrengend, aber toll.

Ich freue mich, dass ihr den Absprung geschafft habt. Wir sind noch immer hier. Wie lange noch? Keine Ahnung...

Seid ganz lieb gegrüßt, Christel


Die Familie lebt

Sind wir ein Auslaufmodell?

ich sage: NEIN

Subjektiv und individuell betrachtet.

Vielleicht liegt es an der Umgebung, vielleicht an der Familie als solches?
Vielleicht, weil wir Landeier sind?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, wir sind Familie.

Vor nur wenigen Generationen war die Großfamilie normal, und zwar alle zusammen unter einem Dach.
Das driftete dann in den 70ern- spätestens 90ern auseinander. Plötzlich gab es "Singles". Singles, die auch wirklich alleine wohnten und auf sich gestellt waren. Ganz bewusst. Früher waren Singles die, die keinen abgekriegt hatten oder verwitwet/ verschwägert waren und in einem Zimmerchen, aber inmitten der Familie, durchgezogen wurden. In allen Ehren, mit allen Hilfen, so, wie sie es verdienten.

Die Alten kriegten ihr Gnadenbrot inmitten der Familie. Sie hatten noch Aufgaben, die sie übernehmen konnten, und ihre Meinung durch Erfahrung war gefragt. Sie wurden in Würde und normaler Selbstverständlichkeit bis ans Ende gebracht.

 Dieses altmodische System brach dann irgendwann auseinander. Es war nicht mehr zu vereinbaren mit dem modernen Leben. Jeder war bemüht, sich frei zu schwimmen und „zu sein“, sich zu verwirklichen, sein eigenes Leben in den Vordergrund zu stellen, alles Alte auf den Kopf zu stellen und als „schlecht“ und „untauglich“ abzuschieben.
Weg damit. Weg.

Ich weiß noch, wie es war.

Wir waren drei Generationen in meinem Elternhaus: meine Oma, meine Eltern und ich, das Kind. Mutters Schwester, Mann und Kind waren auch Kind in meinem Elternhaus, weil, es war ja früher auch Tantes Elternhaus gewesen.
Als ich geheiratet hatte, kam schon bald die Frage meiner Eltern, ob wir denn nicht gerne zu ihnen ziehen würden. Natürlich in ein neues Haus. Natürlich auf ihrem Grundstück.
Also bauten wir. Jeder aus der engeren und weiteren Familie packte mit an, es war ein echtes Familien- Gemeinschaftsprojekt.

Da wir eine kleine Tochter hatten, konnte ich natürlich nicht mehr in meinem Beruf als Banker arbeiten. Meine Eltern waren beide berufstätig, und es gab weder Kitas noch sonstige Kleinkinder-Aufbewahrung Stätten. Also bot es sich an, dass ich zuhause die Stellung hielt, einkaufte für die ganze Mannschaft, kochte, (mittags zu vier verschiedenen Zeiten), mich um meine Oma kümmerte, - und meine Eltern uns dafür finanziell unterstützten.

Dann kam unser zweites Kind, und ich konnte noch weniger arbeiten. Eine Mutter muss  zuhause bei den Kindern sein und sich kümmern. So war's halt früher. Hab ich auch gerne gemacht. Hatte schließlich auch keine andere Wahl damals.

Und fast jeden Sonntag liefen wir alle, dreiviertel der Familie, mit Kinderwagen und Kind, Hund, Schwager, Schwägerin und Nichte die rund sechs Kilometer zu meinen Schwiegereltern, wo wir dann auf den Rest der Familie trafen- noch mal weitere sechs Leute- und immer einen äußerst geselligen Nachmittag verlebten. Die Kinder kramten in Omas alter Blechbüchse mit den uralten Fotos, spielten Karten, verarschten die Kleinen, steckten sie in den Kaninchenkäfig oder schmissen sie ins Korn auf dem Feld nebenan, stopften sich voll mit Kuchen und Limo oder spielten Verstecken in Opas Kemenate.
Und wenn wir dann abends wieder zuhause waren und bei uns noch zusammen saßen, ein Bierchen tranken und noch eine Kleinigkeit zum Essen zusammensuchten, dann stand unweigerlich irgendwann unsere Kleine mit der Schultasche auf dem Rücken bei uns und sagte: „Tante Hannelore...?“
Und wir brachen alle in Lachen aus und sagten: „ja, du darfst mitgehen.“
Bei Tante Hannelore schlafen war das Größte mit.
Oft, eigentlich meistens, kamen meine Eltern dann auch noch rüber und saßen bei uns.

Meine Oma starb mit 79. Mein Vater hatte mehrere Infarkte, bevor er mit 69 ebenfalls starb.
Die Familie war immer da. Alle zusammen oder nacheinander. Keiner bleib allein.
Weder die Sterbenden, noch die Hinterbliebenen.

Es kann oft nervig sein, wenn man nie alleine ist und immer irgendwo der „big brother“ einen watched.
Aber es bedeutet auch Sicherheit.

Heute sind wir nur noch zu dritt hier: Meine Mutter, (Schneeweißchen), und wir. Unsere Kinder und Enkel sind weit weg. Aber sie kommen so oft wie irgend möglich nach Hause. Sie brauchen regelmäßig die schwere, nasse Luft von Emmerich und die Wärme ihrer Familie.
Sie brauchen zum Überleben dort in der Fremde die Sicherheit, in ihre Familie eingebunden zu sein, Teil zu sein von uns, ihre Wurzeln jederzeit zu finden, ohne suchen zu müssen.
Sie beneiden ihre Cousinen, die noch in der Nähe sind und immer dabei sein können.
Sie müssen zum Überleben regelmäßig Familie tanken.
Sie kommen zu den Festen und knubbeln sich hier auf engstem Raum.
Sie kommen, um Schneeweißchen zu sehen.
Sie kommen, um sich fallen zu lassen.
Sie kommen, um neue Kraft zu tanken.
Sie kommen, um zu reden.
Sie kommen, um in ihrer Familie zu sein.
Sie kommen, damit ihre Kinder in Familie eintauchen können.

"Opa so weit weg wohnt", kam es letztens leise durch den Telefonhörer. Unsere Kleinste war gerade zwei, aber sie wusste schon genau, dass zur Familie nicht nur Mama, Papa und die Geschwister gehören, sondern auch Oma, Opa und Oma Tick-Tack.

Auch sie weiß schon:

W i r   s i n d    F a m i l i e.

Vielleicht sind wir ein Auslaufmodell.
Aber ich glaube es nicht. Wenn ich mich so umschaue in der weiteren Familie und im Bekanntenkreis:
Die Familie, der Wunsch nach Familie, lebt nach wie vor. Allen Unkenrufen zum Trotz.
Die Familie lebt!

 

PS: Inzwischen sind viele weitere Jahre vergangen, wir schreiben 2022. Viel hat sich getan, viel hat sich verändert. Jetzt sind wir die Alten.

Die Alten von damals sind längst alle tot, die Jungen weit weg, wir sehen uns nur sehr selten. Der Alltag ist halt mächtiger als die Sehnsucht.

Aber wir sind uns noch immer genauso nah wie damals, als wir noch alle zusammen waren. Wir gehören noch immer ganz eng zusammen. Innerlich auf jeden Fall. Und fürs Äußere gibt es ja zum Glück inzwischen die Telefon-Flat, Whats App und Co. Und so sind wir trotzdem immer und überall hautnah mit dabei.

 

2008

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Generationen Dialog

 

Auszug aus meinem Buch: Himbeerrote Knallbonbons - eine Oma erzählt...

 

„Oma? Habt ihr eine Halfpipe?"

 

?..." Half pipe - halbes Rohr. Halb Rohr? „Was soll das sein?“

 

„Na Mensch, Oma, so' ne Röhre auf der Skaterbahn. So ein Platz, wo man mit den Blades rum rasen kann. Hoch und drehen und dann runter und so. Ich hab doch meine Inliner mitgebracht. - Oma-ha!" (das klang wie: bist du schwer von Begriff?)

 

„Also, ich weiß nicht. Doch. Ich glaub’- ich denke…."

 

„Wieso weißt du das nicht?"

 

„Woher soll ich das wissen? Ich hab keine Inliner."

 

„Dann kauf dir doch welche. Dann kannst du auch fahren."

 

„Da fange ich heute bestimmt nicht mehr mit an. Ich würde mir wahrscheinlich sofort sämtliche Knochen brechen.“

 

„Aber früher, Oma. Früher hast du doch bestimmt auch Inliner gehabt."

 

„Nein, da gab es die noch nicht. - Aber Rollschuhe. Ich hatte früher Rollschuhe, als ich ein Kind war."

 

„Was sind denn Rollschuhe? Und wieso gab es da keine Blades?"

 

„Also, weißt du! Ihr junges Gemüse habt doch von nichts was 'ne Ahnung. Früher gab es so vieles nicht, was für euch heute selbstverständlich ist."

 

„Was gab es denn früher sonst noch nicht, Oma? Gab's denn - ähm - gab's denn vielleicht auch keine Autos?" Anna kicherte, als hätte sie einen guten Witz gemacht.

 

„Du kannst ruhig lachen, aber als ich in deinem Alter war, fuhren tatsächlich kaum Autos. Wir haben auf der Straße gespielt mit allen anderen Kindern. Und wenn mal - vielleicht zweimal am Tag - ein Auto vorbeifuhr, haben wir uns an den Straßenrand gehockt und gewinkt. Tja, das waren noch Zeiten.“ Ich verstummte.

 

„Oma!“ Anna rüttelte an meinem Arm, wie um mich aus der Erinnerung zu wecken, „was war denn? Erzähl weiter!“

„ - Also: - Autos. Ja. - Zu Pfingsten kamen bei uns immer die Autos vorbei, die aus Holland von den Tulpenfeldern kamen. Sie waren mit wunderschönen Blumenkränzen auf der Kühlerhaube geschmückt. Und weil es so viele Autos aus dem Ruhrgebiet waren, wurde die Bundesstraße gesperrt und die Autos umgeleitet. Die Autobahn gab es damals auch noch nicht. Noch lange nicht. Und deshalb kamen die Autos dann bei uns hier vorbei. - Das war vielleicht aufregend für uns! - Weißt du, was wir dann manchmal gemacht haben?" Ich kicherte in der Erinnerung, „wir haben eine lange Schnur an ein altes Portemonnaie gebunden, das dann mitten auf die Straße gelegt und uns mit der Schnur im Graben auf die Lauer gelegt. Und wenn wirklich jemand angehalten hat und das Portemonnaie packen wollte, - schwups, haben wir an der Schnur gezogen. Das war lustig.“

 

„Haben denn viele angehalten?“ Skepsis pur, - „Ich meine, wenn man mit dem Auto fährt, also, wenn nicht gerade 30 ist, dann sieht man so’n kleines Portemonnaie auf der Straße doch gar nicht, oder?“

 

„Na ja, viele sind natürlich nicht darauf rein gefallen, kannst du dir ja vorstellen. Wenn überhaupt, war es meistens einer auf dem Rad, nicht im Auto. Wir haben oft stundenlang da gelegen und gewartet. Aber das war ja auch das Spannende an der Sache: hält jemand an? Und wer? Und sieht er die Schnur? Und fällt er drauf rein? Und wird er wütend und wir müssen vielleicht ratzfatz abhauen?“

 

„Hmm.“ – Es arbeitete hinter ihrer Stirn, „aber womit habt ihr denn sonst noch gespielt auf der Straße? Welche Spielsachen hattest du denn?"

 

„Spielsachen???? Ha, Spielsachen! Wir hatten keine Spiel-Sachen, - wir haben unsere Spiele frei gespielt, aus der Fantasie heraus. Wir haben mit den Armen zum Beispiel einen weiten Bogen beschrieben und gesagt, das hier ist mein Kaufladen. Und dann haben wir Zucker und Mehl und Kartoffeln in die Fächer gestellt. Na ja, weißt du, nicht richtig, wir haben natürlich nur so getan, als ob. Und dann haben wir ring-ring oder so gesagt und das Geschäft geöffnet. Und die anderen Kinder kamen einkaufen. - Oder - wir haben Schah von Persien gespielt in seinem Palast. Wir Mädchen jedenfalls. Ich war immer gerne die Kaiserin Soraya. - Dann hab ich auch meine Arme ganz weit ausgestreckt. Und das sollte dann mein Palastkleid zeigen. Ganz doll weit. –

Oder wir haben Hinkelpott gespielt. Oder ballen. - Mein Gott: ballen. Seit Jahrzehnten habe ich dieses Wort nicht mehr ausgesprochen. B-a-l-l-e-n. Nee, nee, nee!“

 

Ungeduldig und anscheinend leicht genervt schüttelte Anna meinen Arm: „OMA!“

 "Also, ballen, das war ein Ballspiel mit zwei oder mehreren kleinen Bällen, das an der Hauswand gespielt wurde. So, guck mal!“ Ich tat so, als jonglierte ich mit den kleinen Bällen, drehte und bückte mich, warf unter dem Bein, hinterm Rücken und fing alles wieder auf. „Siehst du, so ging das. Da gab es die kleine und die große Probe. Die kleine war ja puppeleicht, aber die große...? Nicht so einfach! –

Oder wir haben Verstecken gespielt. Das ging am besten in den Trümmern. Oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann oder: Mutter, Mutter, wie weit darf ich reisen? Oder: Deutschland erklärt den Krieg gegen ... nee, vergiss es. - Jedenfalls alles solche Straßenspiele“, schloss ich lahm und war dankbar, dass sie nicht nachhakte. Aber das war damals halt eins der Spiele gewesen. Auch, wenn wir als Kinder nicht die geringste Ahnung hatten von dem, was wir da lauthals spielten. Ich hoffte auch, dass sie jetzt nicht auch noch nach den Trümmern fragte. Verlegen fing ich wieder an, mit den imaginären Bällen zu spielen.

 

„Oma, ich versteh das alles überhaupt nicht. Wieso habt ihr denn nichts zum Spielen gehabt? Ich meine, warum denn nicht? Warum haben deine Eltern dir denn gar nichts gekauft? Oder ward ihr so arm?“

„Nein. - Doch. Natürlich waren die Leute damals arm. So kurz nach dem Krieg. Aber weißt du, das ist es nicht. Was man nicht kennt, das braucht man auch nicht. Das vermisst man natürlich auch nicht. Und wir kannten keine Spielsachen. Außerdem brauchten meine Eltern das bisschen Geld, das sie hatten, für Essen und Anziehsachen. Und um das kaputte Haus zu reparieren."

 „Kaputt? Warum war euer Haus denn kaputt?"

 „Das war der Krieg. Davon verstehst du noch nichts."

 „Was war denn damit? Sag doch, Oma!"

 

 Also doch. Ich riss mich zusammen und versuchte, nachzudenken. Zurück zu denken. Das, was in meine Erinnerung kam, in einfache Worte zu fassen. Ich hätte lieber die Möglichkeit gehabt, mich vorher mit dem brisanten Thema zu befassen.

 

Ich seufzte: „Also, zwei Jahre, bevor ich geboren wurde, ist der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Krieg ist etwas ganz, ganz Schreckliches. Grausames. Die Menschen bekämpften sich mit - allem... na ja ...“

 Ich nahm einen neuen Anlauf:

 

„Also, damals gab es auch schon Flugzeuge. Aber keine MD11 oder Jumbos oder Airbusse, um damit in Urlaub zu fliegen, sondern Kampfflugzeuge. Du kennst doch die alte Tante Ju, die immer über Frankfurt fliegt. Du hast sie doch auch im Flugzeugmuseum gesehen. Also, wir, die Deutschen, hatten die Tante Ju und andere Völker hatten ähnliche Flugzeuge. Und an diesen Flugzeugen wurden Bomben befestigt. Und die wurden dann abgeworfen, um alles beim Feind zu zerstören und zu töten.... War eine schlimme Zeit... ganz furchtbar..."

 

„Bomben...?"

 

„Ja, Bomben. Hunderte, tausende Bomben, die ganze Städte in Schutt und Asche gelegt haben, alles war kaputt, die Menschen tot, hier stand auch kaum noch ein Stein auf dem anderen. Die Stadt war vollständig zerstört. Nur Berge von Schutt und Geröll, keine Straßen, keine Häuser, keine Bäume, nichts mehr. Nichts, alles kaputt, tot. –

 

Am 7. Oktober 1944, ein paar Monate vor Kriegsende, wurde Emmerich bombardiert. Der Himmel brannte, die Stadt brannte, der Rhein brannte.  Fast alles von dem, was gerade eben noch gewesen war, wurde ausgelöscht im Bombenhagel. Nichts war mehr, wie es war. Nichts stand mehr, wo es stand. Hunderte von Menschen starben in dem Inferno.

Gut 700 Jahre Stadt weg, einfach ausradiert.“

 

Ich drückte Anna ganz eng an mich. „Es muss ganz, ganz schrecklich gewesen sein, und ich bin heilfroh, dass ich das nicht selber erlebt habe. Und dass meine Mutter an dem Tag nicht hier war. Wer weiß, vielleicht gäbe es mich sonst gar nicht. Und damit deine Mama natürlich auch nicht, und dich, - deine Geschwister ...Gott, man darf gar nicht darüber nachdenken ...…

In unserer Siedlung stand kaum noch ein Haus, das bewohnbar war. Alles platt, rauchende Trümmer, tote Nachbarn, Frauen und Kinder, meine Oma, also, deine Ur-Urgroßmutter, die zu der Zeit mit Oma Tick-Tacks Schwester allein zuhause war, hat sich im Straßengraben in einem Krübber verkrochen und so überlebt…“

 „???“

 „Krübber? Ähm, ja, das sind dicke Rohre, eine Art Unterführung im Graben unter den Übergängen, ein Durchlass für das Grundwasser.“

 „Und da ist deine Oma rein gekrochen?“

 „Ja, das war ein ziemlich sicherer Schutz vor den Bomben. -

 Und als die Bombardierung vorbei war, sammelte meine Oma die überlebenden Nachbarn, deren Häuser ganz ausgebombt, also ganz kaputt und unbewohnbar waren, und nahm sie in ihrem Keller auf. Mal drei, mal vier Familien, mal einzelne, so, wie sie gerade eine Betondecke über ihrem Kopf brauchten.

Dächer gab es nicht mehr. Fast nicht mehr. - …

 

Ich kann mich noch gut an die Trümmer und Ruinen in unserer Straße erinnern. Sie waren unser Spielplatz. Anfang der 50er Jahre. Wir sprangen von Mauer zu Mauer über die ehemaligen Türöffnungen. Das waren unsere Mutproben. Oft genug schrammten wir uns dabei die Haut von den Knien und Händen, wenn wir zu kurz sprangen und abrutschten. Und mussten wir mal Pipi, dann hockten wir uns kurz in eine dunkle, feuchte Mauerecke. Abends, in der Dämmerung, machten die Trümmer den meisten Spaß, wenn die langen Schatten so langsam in die Ecken krochen. Dann wurde es richtig gruselig und unheimlich. Aber bevor es dann wirklich dunkel wurde, riefen unsere Mütter, und wir mussten rein. Meine Mutter, deine Oma Tick-Tack war immer die erste, die rief. Ich musste immer als erste rein. Die anderen Kinder durften alle länger draußen bleiben und spielen.“

 

Anna hielt sich mucksmäuschen still, und auch ich schwieg. Weit weg mit meinen Gedanken. Dann, so nach und nach, ganz langsam, stahlen sich immer mehr alte Bilder in meinen Kopf. Fetzen, Fragmente, Gerüche, Trümmerstücke, Stimmen. Erinnerungen schwappten hoch, die längst verschüttet gewesen waren, unbenutzt, ungedacht. Wie Hürdenläufer hockten sie in den Startlöchern und warteten darauf, frei gelassen  zu werden.

„Als ich geboren wurde und noch in den ersten Jahren danach gab es hier kaum Häuser, die noch einigermaßen heil waren. Ich kann mich gut erinnern, wie ich als kleines Kind oft an der Hand meiner Mutter bei Wind und Wetter an den Trümmerhaufen vorbei Richtung Stadt gelaufen bin, um meinem Vater einen Henkelmann mit Essen zu bringen.“

Ich sah Annas zum Fragezeichen zusammengezogene Brauen.

„Ein Henkelmann war ein kleines metallenes Gefäß, in der Form so ähnlich wie ein Täschchen, mit einem Deckel und Schnappverschluss oben drauf. Und natürlich einem Henkel zum Tragen. Henkel- mann, ja? Verstehst du? Da wurde morgens zuhause das Essen rein gefüllt, und wenn die Männer mittags kurz Pause hatten, haben sie sich in den Hof gehockt und ihr bisschen Essen aus diesem Henkelmann gelöffelt. Falls sie das Glück hatten, überhaupt was zu essen zu haben.“

 

Annas Gesicht war ein einziges Fragezeichen, und ich seufzte. Wie soll man einem Kind von heute, das im Wohlstand lebt, klar machen, dass es vor noch gar nicht allzu langer Zeit vollkommen anders war.

Unvorstellbar anders?

 

„Tüttimaus“, ich zog Anna auf meinen Schoß, „das sind Sachen, die verstehst du noch nicht. Die kannst du noch gar nicht verstehen. -

Jedenfalls, um auf deine Frage nach den Spielsachen zurück zu kommen: wir hatten so gut wie nichts. Wir waren froh, wenn unsere Eltern genug zu essen besorgen konnten. Und zum Anziehen. Meine Mutter hat mir zum Beispiel aus alten Uniformen Kleidchen geschneidert. Und altes, Gestricktes aufgeribbelt und daraus neue Pullover gestrickt und so. Aber Spielsachen, Spielsachen brauchten wir echt nicht. Wir haben nichts vermisst und waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Wir haben mit unserer Fantasie gespielt. Und das war toll. “

„Dann ward ihr aber doch sehr arm, gell, Oma?"

„Na ja, irgendwie schon, eigentlich mausearm, aber - die Anderen hatten auch nicht mehr. Also war es völlig normal."

 

Anna überlegte. Dann nickte sie, und dann:

„Oma, ich versteh das alles nicht. Und vor allem: das mit der Tante Ju...? Und dem Krieg...? Den Bomben?

Das glaub ich nicht. Das kann ja gar nicht sein. Nein, Oma, das lügst du."

................

 

Diese Zeiten gingen weit über Annas Vorstellungsvermögen hinaus. Wie sollte ich dem Kind erklären, wie das damals gewesen war, diese unbegreifliche Normalität, diese Schrecken mit Tod, Hunger und Chaos. Dieses sinnlose, brutale Töten, als normale Bürger normalen Bürgern todbringende Bomben auf den Kopf warfen. Diese absurde Normalität damals. Wie sollte ein Kind, das im Wohlstand sorglos aufwuchs, das verstehen können? Wie sollte es Bilder im Kopf entstehen lassen, die der Fantasie nicht bekannt waren? Nicht mal annähernd?

Sie war im Moment komplett überfordert. Aber ich hatte selber meine Probleme mit der Geschichte. Ich musste nachdenken. Hatte ich so lange nicht getan. In Ruhe für mich. Musste meine Erinnerungen ordnen, musste den Kindern von heute die Geschichte von damals nahe bringen, lebendige Geschichten, so, wie ich sie erlebt hatte. Dazu musste ich selber weit zurück in die Vergangenheit.

 

Kommentar von Rosa Ananitschev:

 

 

Liebe Christel,

immer wieder muss ich staunen, wie ähnlich unser beider Kindheit war! So, wie Du es Anna erzählst, war es, zwar mit kleinen Abweichungen, auch in meiner Kindheit. Dabei trennten uns nicht nur Tausende von Kilometern, sondern auch ganze Welten (im übertragenen Sinne, aber auch irgendwo im wirklichen) :-) In meiner sibirischen Heimat gab es keine Ruinen, aber wir Kinder liebten es zum Beispiel in den ausgehobenen Fundamentgruben oder zwischen den Holz- und Ziegelstapeln zu spielen. Dann hatten wir die gleichen Ballspiele ... (Seilspringen hast Du übrigens vergessen. Oder hast Du das nicht gerne gemacht?) ... Und nicht zu vergessen - die sibirischen Wälder mit ihren Schätzen.

Du beschreibst alles so lebendig und herzlich und humorvoll - das gilt für Deine Aufzeichnungen hier auf der Page ebenso, wie für das ganze Buch. Ich muss beim Lesen immer wieder schmunzeln.

Herzliche Grüße

Rosa

 

#2

Christel Wismans

(Freitag, 08 Januar 2016 15:28)

 

liebe Rosa, natürlich: Seilspringen! Und von den Lehmbergen herunter rutschen, die beim Ausheben der Baugruben aufgetürmt wurden. Bestimmt haben wir auch noch etliche andere Spiele gehabt, die mir entfallen sind. Wir waren ja sehr fantasievoll, wenn es ums Spielen ging. Ich freue mich sehr, dass dir das Buch gefällt. Danke, sagt Christel.