Weihnachten 2006
Eigentlich wollten wir das Weihnachtsfest in England bei unserer Tochter feiern. Aber aus verschiedenen Gründen ging es dann doch nicht.
Deshalb beschlossen wir, dass Barbara zu uns nach Hause kommen sollte. Mit dem Abendflug der Ryanair von London-Stansted nach Weeze.
Aber pünktlich zur Weihnachtszeit schlug der berühmt-berüchtigte englische Nebel zu.
Am Freitag, dem 22.12.06, musste sie noch bis 14 Uhr arbeiten, dann wollte sie um halb 3 den Flughafenzug nehmen und dann den Flieger. Um 22.35 wollten wir sie in Weeze abholen.
Soweit war alles geplant und gebucht.
Nicht geplant und schon gar nicht gebucht war der Nebel, der die englische Insel völlig lahmlegte.
Schon Mitte der Woche hatte er sich klammheimlich angeschlichen, ausgebreitet und England mit dicker, grauer Watte zugedeckt. Er hockte sich mitten ins Land auf seinen nassen Hintern und grinste
wahrscheinlich dämonisch: "So, hier bin ich und hier bleib ich. Nun seht mal zu, ihr Briten, Besucher und anderes Volk, wie ihr jetzt noch von A nach B kommt!"
Wir hier hatten die Anfänge gar nicht so richtig mitgekriegt, weil wir andere Sorgen hatten. Aber am Donnerstagabend rief mein Schneeweißchen (meine Mutter) völlig aufgelöst bei uns an: "Im Fernsehen zeigen sie gerade, dass in England alle Flughäfen geschlossen worden sind wegen Nebel. Und dass das noch tagelang so bleibt. - Und das Kind? Wie kommt das Kind denn jetzt nach Emmerich?"
Wir fragten "das Kind", und es stellte sich heraus, dass es bestens informiert war. Der Nebel war nicht zu übersehen. Babs versprach uns, auf dem Laufenden zu bleiben. Sie wollte nach Möglichkeit auf jeden Fall zum Flughafen. Falls sie nicht wegkäme, könnte ihr Mann sie mit dem Auto wieder abholen.
Von da an verfolgten wir die englischen Nachrichten, die sich ausgiebig mit "the fog" beschäftigten. Besonders auf den großen Flughäfen von Heathrow und Birmingham herrschte absolutes Chaos. Nichts ging mehr. Tausende drängten sich in den Terminals, schliefen auf dem Boden, weinende kleine Kinder, Alte, Kranke, Geduldige und Ungeduldige. Und das zur Weihnachtsreisezeit.
Am PC suchte ich die Internetseiten von London-Stansted und Weeze. Auf englischer Seite sah die Anzeigetafel für raus gehende Flüge eigentlich ganz gut aus. Nur wenige Delays und noch weniger gecancelte Flüge. Weeze mit seinen paar Flügen hatte eigentlich gar nichts zu vermelden.
Ich wollte Babs mit diesen positiven Nachrichten etwas Zuversichtliches mit auf den Weg geben. Deshalb wartete ich noch die Meldung von Weeze über die erfolgte Landung der Freitag-Mittagsmaschine ab. Die sollte meine positive Übermittlung ins neblige England fein abrunden.
15.30 Uhr in Emmerich
Ich hockte vorm PC und wartete. Der Flug musste doch längst gelandet sein! Die Maschinen aus Barcelona und Stockholm wurden schon mit erwarteter Zeit aufgeführt. Aber kein Wort über die Ryanair aus England. Nicht mal ein simples "delay", nothing.
14.30 englischer Zeit
Währenddessen wartete unsere Tochter auf dem Bahnsteig in Leicester auf ihren Flughafenzug. Er kam erst mit einer halben Stunde Verspätung. Erleichtert parkte sie auf ihrem gebuchten Platz, schloss die Augen und schlief ein.
Unsanft wurde sie geweckt.
Mit einer Lautsprecherdurchsage:
"Ladies and Gentlemen, wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass dieser Zug hier in Cambridge endet. Aufgrund seiner Verspätung und der Wetterbedingungen muss er von der Schiene. Sie haben Anschluss an den uns folgenden Flughafenzug, der in wenigen Minuten eintreffen wird."
Rund hundert Passagiere mitsamt ihrem Gepäck stolperten auf den nasskalten Bahnsteig und warteten bibbernd, aber ergeben, auf den Folgezug.
Nach gut einer halben Stunde lief er ein. Er hielt und die Türen öffneten sich. Aber er war schon proppenvoll: die Abteile mit Menschen und die Vorräume mit Gepäck.
Jeder versuchte, sich mit seinem sperrigen Gepäck irgendwie in den Zug hineinzuzwängen, aber es waren einfach zu viele.
Gerade, als unsere Tochter an der Reihe war, zischten die elektrischen Türen und schlossen sich.
Aber nur ansatzweise. Denn Barbara schrie: "So nicht!", riss ihren Trolley hoch, schwang ihn mit Leibeskräften über den Kopf und hinein auf die Kofferberge. Sich selber mit demselben Schwung hinterher. Sie landete oben auf dem Gepäck, die Füße hingen noch draußen. Ihre Mitreisenden zogen und zerrten, bis alles von ihr drinnen war und die Türen sich schließen konnten.
Geschafft!
Sie schafften eine winzige Nische zwischen all den aufgetürmten Koffern, in der Babs mit eng an den Körper gedrücken Armen stehen konnte. Sie konnte gerade noch so eben oben drüber wegsehen. Das fanden die anderen alle äußerst lustig und schon bald hallte der Waggon von ihrem Lachen. "Ich habe eine Platzkarte bis zum Airport gebucht", sagte Babs, und sie brüllten alle wieder los.
Schon bald, innerhalb weniger Minuten, war aus den fremden Menschen eine verschworene Clique geworden. Sie beschlossen, zusammen zu bleiben. Und wenn sie auf dem Flughafen übernachten müssten, könnte immer abwechselnd einer auf die anderen aufpassen.
16.30 Emmerich
die Nachrichten waren fast unverändert. Nur, inzwischen waren die Temperaturen unter null Grad gesunken und die M5, die Hauptverkehrsschlagader Englands, war spiegelglatt. Überall waren inzwischen wahre Menschenmassen unterwegs, hin zum Flughafen, um Leute abzuholen und weg von dort Richtung Heimat. Die M5, die schon zu normalen Zeiten der größte Parkplatz Englands genannt wurde, erlitt einen absoluten Kollaps. Dazu kam das plötzliche Glatteis in Verbindung mit null Sicht.
Ich musste Babs vorwarnen: "Kind, die M5 platzt aus allen Nähten, nichts geht mehr, außerdem ist Glatteis aufgekommen. Ruf um Himmelswillen niemanden an, dass er dich abholen soll. Ich suche dir Übernachtungsmöglichkeiten am Airport raus. Ich melde mich wieder."
17 Uhr in England
In Stansted angekommen, wurden die neuen Passagiere per Lautsprecher aufgefordert, umgehend wieder umzukehren. Es gäbe keine Hoffnung auf Buchung oder Umbuchung.
Aber was entdeckte unsere Tochter: Ihr Flug FR3258 war angeschlagen. Sie konnte zum Schalter gehen und einchecken.
Augenblicklich rief sie uns an.
Ich konnte es nicht glauben, die Anzeigetafeln von Stansted im PC zeigten fast nur noch "unknown". Auch Flug FR 3258 war in allen Einzelteilen aufruf-und lesbar, aber - unknown.
"Doch," schrie Barbara ins Handy, "ich habe meinen Koffer schon eingecheckt."
Ich wieder zurück an den PC, diesmal auf Weeze geklickt: Und siehe da, der verloren gegangene Nachmittagsflug war um 18 Uhr gelandet. Wenn er in circa 40 Minuten wieder abfliegen würde, und in Stansted noch landen könnte und auch wieder zurückfliegen würde, dann....
Zu viele würde und könnte und hätte.
Es könnte passen von der Zeit her, aber ob der Nebel und alles andere mitspielen würden?
Unsere Nerven flatterten, unsere Mägen standen auf Kopf und wir brauchten regelmäßig eine neue Dosis "Korodin" Herztropfen. Der Stress dieser Woche machte uns fertig.
Zumal unsere Nerven sowieso bis zum Äußersten gespannt waren. Noch vormittags hatte unsere Freundin angerufen: Sie haben jetzt die Maschinen abgestellt, wir fahren hin und bleiben bei ihm, bis alles vorbei ist."
Unser bester Freund lag im Sterben.
Unsere Tochter war im Kommen.
Leben und Tod, Tod und Leben, alles zur gleichen Zeit.
Unsere Gedanken schossen unkontrolliert wie wild gewordene Hummeln durch unsere Köpfe.
Ruhig bleiben, Tee kochen. Lieber hätten wir uns einen schönen, starken Single Malt gegönnt. Aber eventuell, wahrscheinlich, vielleicht, hoffentlich mussten wir ja noch fahren.
Mein Mann klebte weiterhin am Fernseher vor den englischen Nachrichten-Kanälen, ich am PC.
Weeze meldete: Flug FR 3258 ist um 18.51 gestartet nach London-Stansted.
Ob er landen kann? Und ob er nochmal hochgeht heute Abend?
Fragen über Fragen.
In London-Heathrow herrschte immer noch blankes Chaos, ebenso auf den meisten anderen Flughäfen Englands. Nur von Standsted kam keine Meldung, kein Interview. Sollte es dort wirklich besser sein? Eigentlich sind Heathrow und Stansted doch gar nicht so weit auseinander?
Stansteds Anzeigetafeln wiesen inzwischen fast nur noch "unknown"-Flüge aus. Ein paar waren ganz gestrichen und ein paar delayed.
Über Flug FR 3258 hatten sie gar nichts zu vermelden, obwohl er doch schon im Landeanflug sein musste! Wieso, zum Teufel, konnten sie die Daten nicht mal aktualisieren? Wusste der eine hier überhaupt, was der andere tat?
Es war zum Wahnsinnig werden!
18.45 englische Zeit
Anruf Handy Barbara:
"Das ist der Wahnsinn hier! Eben kam eine Durchsage, ganz glücklich und stolz, dass ein Flug starten konnte. Und Sekunden später eine andere Frauenstimme: Ho! Ho! Ho! Es ist Weihnachten!
Das hätte sich mal in Heathrow einer erlauben sollen! Das müßtet ihr sehen! Das ist eine Stimmung hier!
Ich melde mich wieder."
19.40 deutsche Zeit
Flug FR 3258 ist in London-Stansted gelandet. Laut Internet.
Das passt! Von der Zeit her. Wenn auch die falsche Maschine, von der Zeit her ist sie goldrichtig. Hoffentlich kann sie mit Babs an Bord auch noch mal starten heute abend!
Flug FR 3258 in Stansted noch immer "unknown"
20 Uhr deutsche Zeit
Anruf Babs Handy: „Ihr glaubt es nicht! Ich werd gleich wahnsinnig! Wir haben Feueralarm! Ich war schon im inneren Bereich, nur zwei Gates vor meinem, kurz vorm Einsteigen, da kommt Feueralarm!
Wir stehen alle draußen auf dem Rollfeld im dicken Nebel. Neben uns, ganz nah, steht eine riesige Maschine, aber sehen kann man sie kaum.
Und eben haben sich zwei Piloten vor mir unterhalten, die anscheinend deadhead mit einer frischen Crew mitfliegen, dass noch 300 Meter Sicht sind. Bei 200 wird der Flughafen geschlossen.
Drückt uns die Daumen!
Ich melde mich wieder!"
Schafft sie's, schafft sie's nicht?
Ich wette, da hat bestimmt irgend so ein Idiot von Passagier die Nerven verloren und sich eine Zigarette angemacht. Überall sind doch Rauchmelder. Das war bestimmt der Grund für den Feueralarm. Verstehen kann ich das schon, wenn man in solch einer Situation trotz Rauchverbot zur Zigarette greift! - aber nicht heute! Wehe, ich kriege den Typ in die Finger! Es war doch schon fast soweit!
Tief durchatmen und warten.
Da! Telefon: Wir steigen ein, ich komme!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!"
Wie wir hinterher erfuhren, dauerte es noch ein bisschen, bis die Maschine dann wirklich abhob Richtung Festland. Erst musste noch ein fremder Koffer im Bauch der Maschine gefunden und wieder ausgeladen werden, dann noch ca 15 Minuten w/ SLOT, aber dann ...
Raus aus dem Nebel, rüber übern Kanal und runter bei Weeze, rein in Muttis und Paps' Arme.
22.30 Ab nach Hause.
Weihnachten!
Der Frauenflüsterer
...er sah derangiert aus. Er sah aus, als ob...
Zwei Frauen im fortgeschrittenen Mittelalter saßen sich gegenüber an ihrem angestammten Bistrotisch, der fest verschraubt auf dem Deck der MS Feudalia montiert war.
.
Maria war klein und rund, während Johanna eher einer abgeernteten Bohnenstange glich. Beide hatten sich fein gemacht, wie immer. An Marias rosigen Flauschhändchen prangten dicke Goldringe, und die obligatorische Altdamen-Perlenkette umrundete dreimal ihren Hals, was ihn nicht unbedingt schöner machte. Johanna stand mehr auf Tücher und bunten Flitter. Vom feinsten natürlich, nur Markenware. Für junge Mädchen.
Beide schwiegen.
Beide starrten auf das türkisfarbene Wasser, das wie ein sprühender Schweif aus Millionen winziger Perlchen hinter dem weißen Traumschiff wirbelte.
Bald würde es dunkel sein, aber noch war es warm. Die Luft war erfüllt von den rhythmischen Klängen der Steelband, die nur wenige Meter von ihrem Tischchen entfernt auf einem kleinen Podest einen fetzigen Mambo spielte.
„Viel zu laut!“ Marias Mundwinkel kräuselten sich, wobei sich ihre Oberlippenfalten bedrohlich in die Quere kamen. „Immer sind die so laut. Unmöglich.“
„Ja genau, wir müssen uns wirklich mal wieder bei der Reiseleitung beschweren. Das ist eine Zumutung.“ Johannas Fuß unterm Tisch schien anderer Meinung zu sein. Er wippte munter im Takt.
„Wie spät ist es eigentlich schon?“
Maria wusste genau, was Johanna mit dieser Frage meinte.
„Ja, genau, wo steckt er eigentlich? Was fällt ihm ein, uns so alleine hier sitzen zu lassen? Wie bestellt und nicht abgeholt. – Wir sollten jetzt tanzen…“
„Ja“! Johanna nickte heftig, „er tanzt einfach göttlich. Man fühlt sich, als ob man schwebt. Und diese Rhythmen heute Abend…das ist irgendwie, wie soll ich sagen…“ Johannas eingefallene Wangen färbten sich zartrot, „also, irgendwie, na ja, erotisch. Nicht?“
Maria schien erst jetzt die braunen, fast nackten Leiber der jungen Jamaikaner wahrzunehmen, die diese fremdartigen Klänge produzierten und dabei ihre Hüften schwangen und die Füße wirbeln ließen, dass Maria vom bloßen Zusehen allein schon schwindlig wurde. „ Na, ja“, sagte sie gnädig.
„Wo ist eigentlich die Felicitas heute Abend? Die gnädige Frau hat es wohl nicht nötig, hier bei uns zu sitzen. Was die sich einbildet! Eine von und zu! Mit Sicherheit geliftet, phh!
Als ob sie was Besseres wäre. Die reist auch nur allein. Wie wir. Hat auch keinen Mann! Ist auch auf Wolfgang angewiesen, damit er mit ihr tanzt. Aber das sag ich dir, immer schön der Reihe nach. Keine Extrawürste für die Dame!“
Marias Augen quollen bedrohlich über den Rand ihrer Brilli-Brille. „Nein!“
„Was?“
„Nein! – Überleg doch mal, Hanni…“
„Nenn mich gefälligst nicht Hanni. Ich heiße Johanna! Jo-han-na!“
„Gott ja, stell dich doch nicht so an, wir sind doch nur unter uns. Also: die Felicitas ist nicht hier und wer ist auch nicht hier? Na? Na?“
Johanna riss den Mund auf und die Hand vor die schneeweißen Kronen: „Nein! - Du meinst?- Aber das darf der doch gar nicht! Oder? Der ist doch angestellt hier zur Betreuung a l l er alleinreisender Damen. Der darf doch nicht…? Oder?“
„Nein, er darf auch nicht. Das hat er mir selber gesagt.“
„Wann?“
„Na, vorgestern Abend…“
„Vorgestern Abend! Ist ja interessant.“ Johanna schnaubte grimmig, und die pinkfarbenen Federchen ihrer Boa tanzten Samba. „ Interessant, meine Liebe, interessant. Vorgestern Abend hast du dich an ihn rangeschmissen, dass es peinlich war. Beim Tanzen. Hier auf diesem Deck. Ich habe es genau gesehen. -
Also da war es. Da hast du es versucht. Als du wie eine Wäscheklammer an ihm hingst, da“- ihre Stimme troff vor süffisantem Neid. „aber du hast dir eine Abfuhr geholt!“
Keine Frage. Eine Feststellung.
Johannas Nasenflügel zuckten vor Schadenfreude.
„Ja, und?“ Maria gab sich gleichgültig, „versuchen kann man es doch mal. Oder?“
Dabei huschten ihre Augen immer wieder zur Türe hinter dem Pool.
„Na gut. Bist ja eh abgeblitzt! – Aber wirklich, es ist ein Ding, dass er nicht kommt und uns unterhält. Und dieses Weibsbild! Denkt wirklich, mit ihren schönen Augen könnte sie ihn uns ausspannen. – Er wird doch nicht wirklich?- Was meinst du?“
Johanna packte Marias funkelndes Handgelenk: „Der kann was erleben! Wir beschweren uns über ihn. Der hat mit uns zu tanzen! Nicht zu glauben! Tagelang macht er uns Komplimente, tut so, als ob… Ach! Er tanzt so göttlich! Und weißt du noch? Der Ausflug oben auf diesen Berg auf Kuba? Als ich Probleme hatte mit den vielen Stufen?
Er war so süß!“
„Aber mich hat er zweimal fotografiert!“
„Ja, mit deinem Apparat. Weil du ihn gefragt hast.“
„Aber du…“
„Ladies! Wunderschöne Ladies“, eine dunkle Stimme wehte wie ein warmer Tropenwind an ihre Ohren, „ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Ich habe mich verspätet. Werdet ihr mir verzeihen?- Bitte!“
Zwei Herzen schmolzen ihm entgegen.
Zwei Augenpaare kniffen sich zusammen
Er sah derangiert aus.
Er sah aus, als ob…?
Zwei Augenpaare sahen sich an.
Vier Augenbrauen hoben sich in perfekter Synchronisation.
Zwei Frauen, bereit zu morden.
„Ladies, Ladies! Was ist denn? Habt ihr mich vermisst? Mea Culpa.
Ich bestelle uns jetzt erst mal eine Cuba libre und dann wird getanzt. Ich habe die Band bis drüben gehört und mir gewünscht“, --
„Wo - drüben?- Und außerdem, wo ist denn die tolle, schlanke, ach-so-wunderschöne- Felicitas? Hmm?“
Marias Unterlippe dräute, und Johannas Kopf wackelte nah am Schleudertrauma.
Wolfgang fuhr sich glättend mit der Hand durch seine dunkle Mähne und lachte schallend:
„Ladies, Ladies, die Felicitas sitzt dort hinten, dort an der Reeling. Sie hat heute in Kingston einen Mann kennen gelernt. Er ist heute Abend hier an Bord. Ich habe mit ihnen zusammen gesessen und den Dolmetscher gemacht. War toll, echt. Ich glaube, da bahnt sich was an.
Na ja, und es ist doch meine Aufgabe, mich um
a l l e allein reisenden Damen zu kümmern.“
Und um alle ihre Belange." Er zwinkerte, "alle, ok?"
Er strahlte die beiden an, hypnotisierte sie mit seinen Augen, und Maria und Johanna schmolzen dahin. Sie zogen den Bauch ein, die Unterlippe hoch, atmeten tief durch und legten ihm bereitwillig ihr Herz zu Füßen.
Ihrem Frauenflüsterer
Copyright: Christel Wismans
Dunkelheit senkte sich langsam über Frankfurt, als ich mich vorsichtig durch das enge Cockpit schlängelte.
Meine Hände zitterten
heftig, und ich hatte eine Heidenangst, irgendwo anzuecken und aus Versehen irgendeinen Schalter irgendwie zu berühren und zu verschieben. Oder mit meinem Fahrgestell das Fahrgestell der Maschine
negativ zu beeinflussen. Ich kenne mich ja, und bei den tausend und drei Hebelchen und Knöpfen, die wie eine Armada von Glühwürmchen um mich herum leuchteten, konnte einem schon der Schweiß
ausbrechen.
Wie auf rohen Eiern näherte ich mich dem linken Pilotensitz und ließ mich behutsam nieder.
Vor mir lag die Startbahn, schwarzer Abrieb von tausenden Reifen, die hier bei der Landung entlang geschrubbt waren, konzentrierte sich ziemlich zentral in der Mitte.
Flughafengebäude, geparkte Maschinen, Tankwagen, einer rollte auf uns zu, erste Sterne, die langsam im immer dichter werdenden Dunkel des Himmels aufblinkten.
Ich schnallte mich an.
Oma war „ready for take off”
Mein Begleiter auf dem rechten Sitz programmierte den Computer.
Er - der Pilot auf Übungsschicht, ich - Gast .
Aber- er rechts! Ich – Oma- links!
Wir flogen mehrere Platzrunden, Steilkurven und andere Sachen, die für mich wie Flugchinesisch klangen. Der Himmel über/neben mir hob und senkte sich, kippte über die Seite weg und entschwand
manchmal ins Irgendwo. Ich wurde in den Sitz gepresst, die Maschine stieg steil hoch und war plötzlich wieder in der Geraden, landete und startete wieder durch. Himmel und Erde, Horizont und
Nirwana. Mir schwirrte der Kopf, was meiner Begeisterung allerdings keinen Abbruch tat.
Schon bald musste ich kleine Aufgaben übernehmen: Fahrwerk ausfahren, einfahren, Checkliste vorlesen.
Oh Gott, kann ich das?
Ich kann!
Und ich will!
Oma war ready for take off!
Dann kam dicker Nebel mit heftigem Seitenwind von links. Landung nach Instrumenten. Unheimlich. Unheimlich ohne Ende. Erst im letzten Augenblick hatten wir Sicht auf die Landebahn. Dazu der
schräge Anflug, weil wir fast Windstärke 7 hatten und gegensteuern mussten, um den Abtrieb auszugleichen.
Meine Augen hingen wie gebannt an der Landebahn links von uns.
Rüber, rüber - wir mussten rüber…!
Wir kamen gut runter: ich las von der Checkliste am Steuerhorn ab:
„ gear“? –
„gear down 4 green“!
„Spoiles“? –
„Spoiles armed“
„Flaps“? –
„Flaps 25“
25? War die Klappenstellung 25? Ich weiß es schon nicht mehr. Es war alles viel zu aufregend für mich.
Für Oma eben.
Dann kam die Frage: “willst du auch mal fliegen?“
Ich?
Wollte ich?
Ich schluckte einmal und sagte dann tapfer: „ICH WILL!“
Und ob ich wollte!
.
„Ok, nimm das Steuerhorn und fliege eine Rechtskurve. Langsam. Mit Gefühl.“
Ich mache immer alles mit Gefühl!
Mein Herz hoppelte einen Doppelaxel, ich schluckte einmal kräftig, und dann flog ich ganz behutsam eine weiche Rechtskurve. Einfach so.
„Nase etwas höher! Höher, höher!
„Pass auf den Horizont auf!“
Tu ich doch!
Oder nicht?
Offensichtlich nicht.
„Hallo! Ich bin’s doch! Oma Crissy! Ich kann weder ordentlich einparken noch unser Auto gerade in die Garage fahren.
Ich bin immer und überall schief! Und da soll ich so ein Riesenteil von Flugzeug fliegen können? Ich kann nur schief!“
Zwar konnte ich inzwischen wunderbar die „gears“ auf Kommando bedienen und die Spoiler armieren. Aber Fliegen ist doch etwas anderes.
„Jetzt machen wir einen Landeanflug und starten dann wieder durch!“
Ich versuchte gleichzeitig mit dem Lenken den Leitstrahl auf dem Instrument vor mir zu finden, sozusagen die Anzeige, wo ich hin muss und die, wo ich wirklich gerade bin.
Upps! Besser nicht. Ich war versucht, das Steuer rum zu reißen so wie beim Auto, wenn man beinahe die Ausfahrt auf der Autobahn verpasst hätte.
Aber- geht nicht. Immer wieder vergaß ich die Trägheit der Riesenmaschine.
Bei dreien meiner Landeversuche wurde mir der erste abgenommen - sonst hätte ich die Maschine hoffnungslos zersemmelt. Wo ist denn hier die Bremse?
Aber die anderen beiden Landungen waren gar nicht mal so schlecht. Ich habe die Maschine, die immerhin ein bisschen größer ist als unser Mazda, einigermaßen ordentlich auf den Boden gebracht. Na
ja, vielleicht ein paar Landungsfeuer umgenietet, aber sonst…?
Sanft gelandet. Da, wo der Abrieb auf der Landebahn ist. Fast da. Na ja, vielleicht ein bisschen rechts davon. Aber immerhin.
Dann sollte ich die Maschine einparken. Zwischen die anderen dicken Brummer.
Hilfe!!
Wo denn? Wie denn? Da? Wie komm ich denn dahin?
„Dreh das Rändelrad da links von deinem Sitz!“
„Wo? Wie? Hier? – Nee? Da?? Wo denn????????“ Ich geriet in Panik. Die Maschine musste runter von der Landebahn!
Endlich fand ich das Rad zum Drehen im Stand, also zum Einparken.
Ich hasse Einparken. Ich konnte noch nie gescheit einparken. Auto wohlgemerkt. Und die Riesenmaschine sollte ich jetzt übers Flugfeld rollen und einparken?
Ich?
Ich drehte hektisch am Rad. Es ratschte und kratzte, schrappte und wimmerte, das Flugzeug torkelte wie ein besoffener Seemann.
OGottttogooooooottttttttt!
„Ruhig, mit Gefühl, langsam!“
Als die Nase meines Flugzeugs endlich sauber ausgerichtet zwischen den anderen Maschinen geparkt stand, war ich fix und fertig, aber auch stolz wie Oskar.
Ich kletterte aus der Maschine, schaute noch einmal zurück und konnte es nicht fassen, wie klein doch letztendlich so ein Simulator ist. Er sah so harmlos aus wie er so still da stand auf seinen
hohen Stelzen und den dicken Kabelsträngen rundum.
Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, gerade aus einem echten Cockpit, allerdings ohne Flugzeug hintendran, ausgestiegen zu sein.
Wunder der Technik.
copyright: Christel Wismans
Samstag, 3. Januar 2015. Das Wetter ist unauffällig. Januar halt.
Wir bringen unsere beiden Enkeltöchter, 15 und 8 Jahre jung, mit der Bahn nach Köln zu ihrem gebuchten ICE nach Frankfurt. Sie haben eine Fahrkarte erster Klasse mit reservierten Plätzen für einen Erwachsenen und ein Kind von Emmerich nach Frankfurt Hauptbahn-
hof. Der ICE soll sieben Minuten vor 16 Uhr fahren.
Wir nehmen den RE 5, der eine halbe Stunde vorher in Köln ankommt.
Irgendwie habe ich in der Hektik Schal und Mütze vergessen. Das macht sich unangenehm bemerkbar, als wir auf dem zugigen Bahnsteig im eisigen Wind auf den verspäteten Regionalzug warten.
Als er endlich einläuft, laufen wir bis vorne durch und steigen als Erste ein. Seltsamerweise sitzen schon - oder eher noch? - Reisende im Waggon. Wieso sind die nicht ausgestiegen hier an der Endstation? Das hätte uns warnen müssen nach all unseren Erfahrungen mit der DB.
Aber wie auch immer, wir müssen nach Köln, die Kinder haben Zug-
bindung.
Auf den ersten Kilometern fährt unser Zug ganz normal, die Fahrkarten werden kontrolliert und gestempelt, die Mädchen futtern und kichern. Ich muss ihnen aus meinem Oma-Buch Himbeerrote Knallbonbons vorlesen mit ihren Un-und Taten, als sie noch klein waren...
Bis Oberhausen geht alles gut.
Dann ist Schluss mit Lustig.
Die Bahn steht nach dem Halt. Und bleibt stehen. Bleibt stehen...
Die Minuten laufen schneller.
Irgendwas von Betriebsschaden kommt leise und nuschlig durch die Lautsprecher. Kaum zu verstehen. Aber wir verstehen genau. Und kennen die Bedeutung. Das ist nicht gut.
Doch dann bewegt sich der Zug wieder. Langsam und vorsichtig, aber er fährt.
Und steht wieder. Minutenlang.
Und fährt.
Und muss stehen bleiben, weil andere Züge Vorfahrt haben.
Die Minuten fangen an zu rennen.
Ob wir das noch schaffen?
Er kommt bis Duisburg. Und steht.
Schleicht bis Düsseldorf Flughafen. Und steht.
Und wieder: Betriebsschaden.
Das schaffen wir im Leben nicht mehr. Unsere Nerven flattern, die Mädchen werden genauso nervös.
Ich informiere unsere Tochter per Handy, dass die Kinder den gebuchten Zug nicht erreichen können. "Vielleicht kannst du das schon im Zug abklären und umbuchen", meint sie, "wenn ein Zugbegleiter kommt." Ich lache schallend.
"Ich weiß nicht, was mit meinem Smartphone ist, es stürzt dauernd ab." Unsere Enkelin starrt auf das kreisende Samsung-Oval. "Da, jetzt schon wieder. Jetzt hat es nur noch 5%, dabei hatte ich es voll aufgeladen! Da- schon wieder weg ...!"
"Nimm mal den Akku kurz raus. Wenn meins spinnt und abstürzt, hilft das meistens", sage ich. Aber bei ihrem Gerät bringt es nichts. Es stürzt schneller ab, als sie es ausschalten kann.
"Aber ich brauch es doch nachher, wenn wir alleine im ICE sitzen. Wenn mal was ist. Und Mama ruft bestimmt auch an ..." Dieses neue Problem verstärkt ihre Nervosität.
Wie viele Stationen sind es noch bis Köln Hauptbahnhof? Wir zählen an den Fingern ab. Wenn der Zug jetzt einfach Gas geben und durchfahren könnte und der ICE vielleicht Verspätung hätte, ... dann könnten wir - eventuell - vielleicht -
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wir halten in Leverkusen-Mitte. Das hatten wir überhaupt nicht auf dem Schirm. Scheint unheimlich toll zu sein. Der Zug kostet den Auf-
enthalt voll aus. Er mag sich gar nicht trennen.
Die Zeit rast, obwohl die Minuten sich dehnen wie Kaugummi.
Die letzte schwache Hoffnung stirbt. Tot.
Jetzt haben wir schon über eine halbe Stunde Verspätung. Alle Nase lang bleibt der Zug auf offener Strecke stehen. Er kann nicht mehr. Oder er muss warten, um die regulären, nicht verspäteten Züge durch zu lassen.
Köln-Messe Deutz ...
Rheinbrücke Köln ...
Überall steht er.
Um zwanzig nach vier rollen wir endlich im Hauptbahnhof ein.
Vorsichtshalber rennen wir noch die Treppen runter und die nächsten wieder rauf, um ganz sicher zu sein, dass der ICE nicht vielleicht doch noch wie durch ein Wunder auf uns wartet.
Natürlich ist er längst weg. Aber der nächste fährt schon um 16.44, schreibt die Mama.
Also dann, auf schnellstem Weg zum Reisecentrum, Fahrkarte umbuchen lassen. An jeder Hand ein Kind, in der anderen ein Trolly, rasen wir die Treppe wieder runter in die Halle. Das Reisecentrum ist natürlich ganz am anderen Ende. Wir wollen rein stürmen, aber Halt! Stop! Am Eingang werden Nümmerchen verteilt. Wir stehen in der Schlange und haben etliche Leute vor uns. Kein Wunder, es sind auch nur ein paar Schalter besetzt.
Opa übergibt Marie sein Smartphone, damit die Kinder erreichbar bleiben. "Stell dir bloß mal vor, wir hätten die Kinder alleine fahren lassen ..."
Bei dem Gedanken wird uns beinahe schlecht.
"Oma, ich muss ganz dringend." Auch das noch.
"Tut mir leid, Schatz, du musst warten, bis du im Zug bist. Wir sind gleich dran."
Am Schalter lege ich die Fahrkarte der Mädchen vor. "Unser RE5 aus Emmerich hat eine Dreiviertelstunde ..." Er weiß schon Bescheid und schreibt auf das Ticket irgendwas mit Lokschaden. "Aber das Problem ist", sagt er nebenbei, "heute fährt kein Zug mehr von hier aus nach Frankfurt."
???????
"Sie müssen nach Köln-Deutz, da fährt noch ein ICE um 16.44."
"Ok", ich seufze, "aber die Fahrkarte für die Mädchen ist jetzt korrekt, auch mit erster Klasse, ja?"
"Ja". Er hat die Ruhe weg. "Aber die Fahrkarte ist nur für einen Erwachsenen. Wer fährt denn nun damit?"
"Die beiden Mädchen hier."
"Wie alt sind die?"
"15 und 8."
"Dann ist das Kind ohne Fahrschein."
"Nein, da steht doch: 1 Erwachsener, 1 Kind."
"Bei dieser Fahrkarte fährt das Kind gratis mit, aber nur mit einem Elternteil."
Langsam werde ich wütend. "Das steht aber nirgends. Da heißt es nur:
1 Erwachsener, 1 Kind. - Also, machen Sie uns jetzt bitte eine Karte für das Kind. Und wann fährt eine Bahn nach Köln-Deutz?"
"In- warten Sie, zwei Minuten auf Gleis 10." In aller Seelenruhe bereitet er die Fahrkarte vor.
"Looooos!", schreie ich schon von weitem meinem Mann am Eingang zu , "keine Zeit, Gleis 10!"
Wir stürmen durch die Halle, Gegenverkehr in voller Breite. Gleis 10 ist am anderen Ende der langen Halle. Treppen hoch und mit einem Satz in die S-Bahn, die schon abfahrbereit auf dem Gleis steht. Ich keuche schlimmer als eine defekte Dampflok, und die Kinder starren mich angstvoll an: "Oma!"
Noch bevor sich meine Lungen wieder beruhigt haben, sind wir schon in Köln-Deutz.
Eisiger Regen fegt über den Bahnsteig. In Sekundenschnelle sind wir nass. Jetzt zu Gleis 11, es geht um Minuten. Gleis 11 ist das übernächste. Kann ja nicht weit sein. Obwohl auf der Karte was von Fußweg steht.
Es dämmert schon mächtig. Wo müssen wir hin? Nach rechts oder links? Nirgends ein Ausgang oder eine Treppe zu sehen. Ich packe Klein-Emmi fester und renne mit ihr nach rechts. Mein Mann mit Marie nach links. Er fragt jemanden, ich frage jemanden. Eine Frau zeigt nach rechts: da lang und dann runter. Ein Mann zeigt nach links. Wir stürmen die Treppe runter und die nächste wieder rauf. Meine Güte, die Treppe erinnert mich an die Potemkinsche Treppe in Odessa. Mindestens genauso viele Stufen!
Hier ist Gleis 11. Sollte es jedenfalls sein. Oder? Aber warum ist das so merkwürdig ausgeschildert? Nicht nur Gleis 11, auch noch etliche andere Gleisnummern sind angeschlagen. Wir hetzen hin und her. Fragen den Erstbesten, der uns nicht ausweichen kann: "ICE? Gleis 11?" Er zeigt auf den Betonboden. "Da unten. Unterirdisch."
Ich hasse diesen Bahnhof.
Als wir endlich den unterirdischen Bahnhof erreichen, innen und außen pitschnass, fährt der ICE ein. Wir schieben die beiden Mädchen mitsamt ihrem Gepäck in die erstbeste, offene Türe und sagen: "Sucht euch einen Platz, irgendwo. Für die eine Stunde bis Frankfurt ist es
egal."
Und schon fährt der ICE an. Wir rennen nebenher, erwidern Küsschen und ihr Winken, bis der Zug unseren Blicken entschwindet.
Gott sei Dank, wenigstens die Kinder sind bald zuhause.
Nass und durchgefroren suchen wir uns in der Halle die Zeiten für unseren eigenen Zug heraus. In einer halben Stunde fährt der RE5. Wir trinken einen heißen Kaffee. Gleich können auch wir.
Gleich ist übertrieben.
Unser Zug hat eine Viertelstunde Verspätung. Als er endlich einfährt, ist es nicht der erwartete RE5, der Doppeldecker, sondern ein uralter Zug, den sie wahrscheinlich in aller Eile in Koblenz aus dem Depot geholt, entstaubt und aufs Gleis gesetzt haben, weil der reguläre, der uns Stück für Stück nach Köln gebracht hat, nicht mehr einsatzfähig ist. Aber Hauptsache, er bringt uns endlich nach Hause.
Er bringt uns bis Duisburg. Da ist Schluss. Alle Mann raus.
Gegenüber auf dem Gleis steht ein Doppeldecker.
Wir steigen um.
Um 20 Uhr, ganze sieben Stunden, nachdem wir mit den Kindern das Haus verlassen haben, rollt der Zug in Emmerich in den Bahnhof.
Einmal Emmerich-Köln und zurück: sieben Stunden.
Thank you for traveling with Deutsche Bahn
Copyright: Christel Wismans
Sie war noch klein , gerade mal zwei Jahre jung. Schnurgerade, strohblonde Haare mit quadratischem Schnitt umrahmten ihr weiches Kindergesicht mit diesen großen, tiefblauen Augen. Seltsame Augen waren das, irritierende Augen. Denn der Blick aus ihnen war der eines alten Menschen.
Ihr Name war Greta.
Als Kleinste von drei Geschwistern wurde sie nicht unbedingt verhätschelt. Nur manchmal, wenn sonst keiner von den anderen dabei war, bekam sie flüchtige Streicheleinheiten . Meistens aber war sie der Sündenbock für die Großen, wenn irgendetwas daneben oder kaputt ging. Nur selten durfte sie mitspielen. Ständig wurde sie aus den Kinderzimmern gejagt: lass das, verschwinde, hau ab, du störst ...
Das hasste sie wie die Pest. Es war so gemein. So ungerecht.
Trotzdem hatte sie keinerlei Minderwertigkeitskomplexe wegen ihrer noch geringen Größe und schon gar nicht wegen ihres noch etwas eingeschränkten Sprachgebrauchs. Sie wusste genau, wer sie war und was sie war. Und vor allem, was sie wollte.
Sie war.
Sie war Greta.
Und sie wollte von den Großen als das anerkannt werden, was sie in ihrem tiefen Inneren längst war. Eine reife, kluge und sehr intelligente Persönlichkeit. Ein ausdrucksstarkes "ICH".
Aber immer wieder rannte sie mit ihren kurzen Beinen und den noch ungeübten Mitteln gegen die Mauern des Alltags.
Diese Hilflosigkeit machte sie wahnsinnig.
Sie schaffte es einfach nicht, ihr ganzes Sein, das komplette Paket, unter einen Hut zu bringen. Sie wusste, es war da, tief in ihr drin, sie spürte es doch, aber es kam nur bruchstückhaft in vielen, kleinen Puzzlestückchen heraus. Ein Durcheinander, das sie zur Verzweiflung brachte, die Großen aber zum Lachen. Oder auch zur Weißglut.
In ihrer hilflosen Verzweiflung fing sie dann an zu schreien. Laut, sehr laut, tief aus dem Innersten heraus.
Aber das verstand erst recht niemand. Im Gegenteil, sie wandten sich ab, hielten sich die Ohren zu, schüttelten sie und schrien selber:
Hör auf! Schluss jetzt! Geh! Sei still!
Das machte sie noch verzweifelter. Und sie schrie noch lauter.
Warum verstand sie denn keiner?
Warum hörte ihr niemand zu?
Sie war doch schon groß. Fast einen Meter groß.
Fast so groß wie die Anderen.
Und sie konnte sogar schon lesen. Na ja, fast.
Fast schon schreiben.
Denken sowieso.
Sie saugte jedes Wort auf, das ihr vorgelesen wurde und behielt es fast wörtlich.
Sie konnte sich von den Bildern in den Büchern Geschichten erzählen lassen und sie dann "vorlesen!". Manchmal mit eigenem Inhalt.
Und wenn sie ganz traurig war und nicht weiter wusste, verkroch sie sich mit ihrem dicken Märchenbuch ins Bett, zog die Decke über den Kopf und ließ sich entführen in eine zauberhafte Weltvoller guter Feen und Wunder.
Dann war die Welt wieder gut, ihre Tränen getrocknet, und sie war wieder Greta, das große, furchtlose Mädchen.
Copyright: Christel Wismans
Er wollte alles.
Die Sterne vom Himmel.
Je größer, desto besser.
ALLES
Doch das, was letztendlich von seinen Träumen blieb, passte in ein Schnapsglas.
Er sah klasse aus, damals.
Die Mädchen drehten sich nach ihm um und tuschelten. Kicherten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Südländisch sah er aus. Nicht besonders groß, aber schlank und verwegen, dunkle Augen mit
mädchenhaft langen Wimpern unter verwegener, schwarzer Haartolle.
Und frech war er auch. Er konnte jede kriegen. Und nahm sie auch.
Er wollte hoch hinaus, raus aus der Kleinstadt, der Enge, dem Mief.
Er wollte fliegen, sich den Himmel untertan machen, mit den Elementen um die Wette toben.
Raus, raus. Er wollte mehr.
Er wollte alles.
Er schmiss den sicheren, erlernten Beruf.
Ein paar Jahre lang lief es gut. Sein Traum ging in Erfüllung. Er flog alles, was sich fliegen lässt und beherrschte seine Maschinen mit dem sicheren Gefühl für die vielschichtigen Vorgänge. An
guten Tagen war er eins mit sich und der Maschine, eins mit dem Himmel, den Elementen und der Technik. Er liebte sich und sein Leben. Er war der Größte dort oben. Alles gehorchte seinem Kommando,
seinem Knopfdruck, seinen Entscheidungen.
Oben war alles gut. Oben war er der King.
Unten war alles grau, öde, langweilig, dröge.
Seine Familie? Seine Frau? Klein kariert, langweilig. Und die ständigen Alltagsprobleme mit den Kids? Mein Gott, musste er sich mit so was befassen, wenn er zuhause war?
ER?
Der Wandel kam schleichend auf leisen Sohlen.
Hier mal ein Glas, gerne auch mal zwei, drei. Immer öfter auch mal nur so zur Entspannung mit den alten Kumpeln von früher abhängen und einen drauf machen. Zeigen, dass man kein Intelligenz
Pinkel ist, sondern ein ganzer Kerl.
Ich bin der Größte, ich kann schwere Maschinen fliegen, ich habe mich völlig in der Gewalt. So ein Schluck ab und zu tut gut. Dann ist auch die Qualmerei nicht so trocken.
Bald traf man ihn in seiner Freizeit nur noch mit der Zigarette in der einen und einem Glas in der anderen Hand.
Beim Fliegen trank er natürlich nicht.
Aber vorher. Wenn die Hände nicht ruhig wurden und zitterten.
Eine Weile ging es gut. Keine gravierenden Probleme, er schaffte den Spagat zwischen fast nüchtern und fast besoffen.
Seine Kumpel deckten ihn.
Seine Familie auch.
Aber dann kam der Tag der Wahrheit.
Er schaffte es noch gerade so eben, heil auf den Boden zu kommen. Die Maschine konnte repariert werden. Aber für ihn war Schluss. Endgültig Schluss.
Er wurde entlassen.
Und war auf perfide Weise irgendwie glücklich darüber.
Keine Verantwortung mehr. Aus. Vorbei.
Er konnte leben, wie er wollte. Trinken, wie und wann er wollte.
Wie viel er wollte. Nie mehr nur halb besoffen.
Er sackte schneller ab, als ein Ertrinkender versinkt.
Seine Familie sagte sich irgendwann von ihm los.
Es war ihm egal. So was von egal.
Er hatte seine Flaschen, seine treuen Begleiter, seine einzigen Freunde. Und seine Zigaretten.
**********************
Ab und zu landet er mit Blaulicht im Krankenhaus, in der Notaufnahme. Wird künstlich beatmet, Schläuche stecken in seinem Körper, führen aus ihm heraus.
Egal. Alles egal.
Er geht weiter seinen Weg.
Entschlossen.
Endgültig.
Bis zum bitteren Ende.
AUS und VORBEI
Copyright: Christel Wismans
Siglinde Bickl (Montag, 15 Juni 2020 17:48)
Ein sehr nachdenklichmachender Text. Größenwahn?, nein ich glaube nicht, eher Anerkennung suchend? Von seiner Art gibt es genug.
Danke liebe Christel
Siglinde
Mein lieber Mann trägt eine Brille.
Ich auch, aber nicht nur ab und zu wie er.
Denn er ist kurzsichtig.
Das heißt, er sieht alles klar, was ihm unter die Augen kommt.
Es darf nur nicht allzu weit weg sein...
Früher habe ich ihn bekniet, eine Gleitsichtbrille zu nehmen, weil die Weitsichtigkeit mit zunehmendem Alter sowieso dazukommt. Oder wenigstens eine mit Glasfensterchen drin. Eine, die man morgens aufsetzt und vorm Schlafengehen wieder ab. Ständig dieses Aufsetzen, Absetzen, Suchen, ja, wo ist sie denn?
Mit der ersten Gleitsichtbrille fiel er beim Aussteigen aus dem Zug, stolperte die Bahnhofstreppen runter und ging wie auf rohen Eiern.
Lebensgefährlich.
Also wieder eine neue Brille, nur für die Ferne.
Ansonsten, wie gehabt: Brille auf, Brille ab.....
Sie lebte nicht lange.
Im Frühjahr beim Anlegen eines neuen Blumenbeetes holte ich mir einen Hexenschuss, und mein Mann musste mein angefangenes Werk beenden. Er visierte das Beet an, den Lehm, holte den Spaten, nahm die Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Dann rammte er den Spaten in Erwartung des harten Bodens mit aller Kraft Richtung Erde. Voll konzentriert auf sein Werk entging ihm dabei, dass seine Brille sich gleichzeitig mit dem Spatenschwung auf den Weg nach unten begab.
Sie kam einen Sekundenbruchteil vor dem Spaten unten an und wurde gnadenlos zertrümmert.
Wieder die alte Kassenbrille mit dem Horngestell, vor dem die Kinder Angst hatten.
Und wieder eine neue Brille.
"Schatz, diesmal ist sie ein bißchen teurer geworden, dafür ist sie aber auch im Porsche-Design, chic, wirklich, sie wird dir gefallen."
Sie gefiel mir auch. Sah echt gut aus.
Aber nicht lange.
Abgesehen davon, dass auch Porsche immer weg war, hatte sie auch noch das Talent, sich unsichtbar zu machen.
Dann, eines Tages, war sie endgültig verschwunden.
Wir haben das ganze Haus abgesucht, den Garten Zentimeter um Zentimeter, die Müllbehälter, das Altpapier, den Kühlschrank, sogar die Regentonne haben wir entleert. Hätte ja sein können, er hat sie kurz mal eben auf dem Deckel abgelegt, um sehen zu können, was er tut.
Nichts haben wir ausgelassen.
Wir konnten es nicht begreifen. Die verflixte Brille war weg.
Ersatzbrille, mal wieder.
Aber nicht die hässliche Horror-Hornbrille, nein, eine ganz neue Zweitbrille diesmal.
Ist ja nicht weg bei uns.
Rund ein halbes Jahr später, mit dem Frühjahrs Erwachen, tauchte Porsche plötzlich wieder auf. Unter einem blühenden Busch wuchs ein zierliches, nicht wirklich grünes Stängelchen aus dem Boden. Mein Mann nahm die (Ersatz)Brille ab und kniete sich hin, um dieses seltsame Pflänzchen näher zu betrachten.
Es entpuppte sich als Bügelchen mit Porsche-Aufschrift. Und daran hing, es war wie ein Wunder, die von lockerer Erde bedeckte restliche Brille.
Und sie lebte noch! Nicht ein Kratzer auf den Gläsern! Nur etwas feuchte Erde.
Halleluja! Klar, dass wir ihre Wiederauferstehung gebührend feierten.
Mein Mann war so gerührt, dass er ihr hoch und heilig versprach, in Zukunft besser auf sie aufzupassen. Er benutzte sogar ab und an die Bändchen, mit denen man seine Brille an die Kette legen kann. Aber nicht so gerne. Nur immer wieder dann, wenn er sie mal wieder stundenlang gesucht hatte.
Jetzt hat seine Brille offensichtlich die Geduld mit ihm verloren und lässt sich nicht länger mit leeren Versprechungen abspeisen.
Am vorigen Samstag, als wir vom Walken zurückkamen, hat sie sich in Luft aufgelöst.
Nach dem Duschen lag sie noch auf der Fensterbank im Bad, aber von da an verliert sich ihre Spur.
Wir haben jedes bekannte Versteck im Haus abgegrast. Sie muss hier irgendwo liegen, hier im Haus. Es gibt keinen Raum, den wir nicht akribisch abgesucht haben, aber sie ist mal wieder wie vom Erdboden verschluckt.
Diesmal für immer?
Oder wird im Frühjahr in irgendeinem Blumentopf vielleicht noch einmal das Wunder der Wiedergeburt geschehen?
Wir geben die Hoffnung nicht auf.
Copyright: Christel Wismans
Karli-Scharli
irgendwo am Niederrhein
vor vielen Jahren
Karlchen war knapp sechs. Ein mageres Kind mit dunklen, widerspenstigen Haaren voller Wirbel. Sein schmales Gesicht wurde dominiert von braunen Augen, die durch die dicken Brillengläser unverhältnismäßig groß in dem kleinen Kindergesicht standen. Ein Bügel fehlte an der unförmigen Brille. Karlchen hatte ihn bei einer Rauferei mit den großen Jungs aus der Nachbarschaft verloren. Sie hatten ihn wieder gehänselt, wie immer, wenn sie ihn sahen, und er ihnen nicht entgehen konnte. Karli – Scharli! Karli – Scharli ! Sie hatten ihn zwischen sich hin und her geschubst und ihm Beinchen gestellt. Und sie hatten gegrölt, als die Brille dabei in den Dreck fiel und Karlchen mit einem verzweifelten Satz versucht hatte, sie zu retten. Ohne sie war er hilflos. Gerade, als er seine Hand danach ausstrecken wollte, trat einer der Jungs zu. Es knackte kurz, und der Bügel brach entzwei.
Seitdem hielt ein Gummiband die Brille auf der Nase.
Karlchen schlich vorsichtig an den kaputten Häusern entlang, hielt sich dabei dicht an den Mauern. In den Trümmern etwas weiter entfernt hörte er die Stimmen der anderen Kinder. Auf keinen Fall durfte er ihnen begegnen. Heute schon gar nicht. Es war Weihnachten, und er wollte rechtzeitig zuhause sein. Die Mutter hatte geheimnisvoll getan, und ihre Augen hatten geleuchtet. Bestimmt war sie unterwegs, um etwas Besonderes zu organisieren. Er fühlte eine Erregung in sich aufsteigen und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
Zuhause war der große Platz mit dem aufgetürmten Altmetall rechts und links, rostig, scharfkantig und gewaltig. Einmal, als er noch klein war, hatte Karlchen versucht, ein blinkendes Stück Blech, in dem sich die Sonne spiegelte, von ziemlich weit unten heraus zu ziehen. Mit Getöse, einem Gewitter gleich, war der Berg Metall ins Rutschen gekommen, und nur dank der Geistesgegenwart seiner Großmutter hatte er überlebt. Die Tracht Prügel, die er hinterher von ihr bezogen hatte, allerdings fast nicht. Die Mutter hatte still dabei gestanden, mit diesen traurigen Augen wie immer, und hatte nur leise gefragt: „muss das denn sein? Er ist doch noch so klein…“
„Ja. Das muss sein. Er muss lernen. Er kann gar nicht früh genug anfangen, zu lernen. Gerade er, dieser, dieser…Bastard!“
Wie immer, wenn sie an diese Stelle kam, presste sie die schmalen Lippen fest zusammen, wie um lieber an diesem einen Wort zu ersticken, als es auszusprechen. Aber sie spuckte es aus. Immer. Voller Hass. Und sah ihn dabei an.
Mit dem Gedanken an die strenge Großmutter, die ihm immer irgendetwas vorzuwerfen schien, wurden Karlchens Schritte langsamer. Er schlich durch die langen Schatten auf dem Platz, die Augen resigniert auf den Eisenbahnzug gerichtet, der an der Kopfseite quer zum Altmetall stand. Hier wohnten sie. Wenn die Sonne schien, strahlte der Zug in freundlichem Silber. Aber jetzt war es schon früh dämmrig, bedrohlich schien er da zu stehen und auf ihn zu warten. Und in ihm die Großmutter.
Drinnen brannte ein trübes Licht. Karlchen tastete sich an die Fenster heran und zog sich etwas hoch. Ob die Mutter schon zuhause war?
In der Küche hockte die Großmutter und schnipselte Steckrüben in einen gusseisernen Kessel. Steckrüben! Och, ne, schon wieder! Immer diese blöden Steckrüben!
Die Mutter war offensichtlich noch nicht zurück. Vielleicht hatte sie ja einen Bauern entdeckt, der ihr etwas Milch eintauschen würde. Für Weihnachten. Oder ein paar Eier!
Bei dem Gedanken an heiße, gekochte Eier musste Karlchen schlucken, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er beschloss, draußen auf seine Mutter zu warten.
Der Junge drückte sich in eine Nische zwischen Metall und Zug, scheuchte eine Ratte beiseite und zupfte gewohnheitsmäßig an den Rändern seiner kurzen Hose. Immer, wenn er sich hinhockte, rutschte sie hoch und gab ein Stück blanke Haut frei zwischen den braunen Wollstrümpfen und seiner fadenscheinigen Hose. Es war kalt, er schauerte und wünschte sich, dass seine Mutter bald käme und er mit ihr zusammen rein gehen könnte.
Seine Mutter hieß Elsa. Fräulein Elsa Guss. Sie war schön, so weich und warm. Er liebte sie sehr. Wenn er bei ihr sein konnte, war alles gut. Ihr konnte er alles sagen, sie alles fragen, was er nicht verstand und was ihn bedrückte. Allerdings kam es nur sehr selten vor, dass sie abends eng aneinander gekuschelt in der Dunkelheit ihres Waggons leise miteinander flüsterten.
Warum bin ich so braun? hatte er eines Tages gefragt. Und warum seh ich so anders aus als die anderen Kinder? - Und warum - warum habe ich keinen Vater?
„Aber du hast einen Vater“, hatte sie gesagt. Heftig. „Natürlich hast du einen Vater. Einen sehr lieben sogar. Und er ist auch braun. Sogar noch mehr als du, - nur, - der ist nicht da. Der ist in Amerika. Ganz weit weg. Sieh mal“, sie hatte gestockt und dann irgendwie lahm geschlossen: „dein Großvater ist ja auch nicht da. Der ist im Krieg geblieben. Und dein Vater musste eben nach Amerika zurück. Aber er kommt uns bestimmt bald holen.“ Sie drückte den kleinen Kerl an sich und wiegte ihn beinahe heftig: „Ganz bestimmt. Du wirst sehen.“
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„Karlchen! Karlchen! Wo steckst du? Bist du hier irgendwo?“ Mutters Stimme hallte über den Platz. „Komm, schau her, was ich erstanden habe!“
Karlchen rieb sich die Augen, war er etwa eingedöst? Vorsichtig kroch er zwischen dem Gerümpel hindurch auf den inzwischen fast dunklen Platz.
Da stand die Mutter und zog hinter ihrem Rücken ein kleines Tannenbäumchen hervor:
„Komm her, mein Schatz", rief sie und ihre Stimme klang beinahe übermütig, "komm! Schau, was ich gekriegt habe! Ist das nicht wunderbar?"
Sie hielt ihrem Sohn das Bäumchen hin, dann lehnte sie es gegen eine rußgeschwärzte, vorstehende Kante, schwang Karlchen auf ihre Arme und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Nase:
"Fröhliche Weihnachten, mein Sohn!"
Copyright: Christel Wismans
Die zwei Frauen, eine alte und eine jüngere, treten zögernd in das Krankenzimmer auf der Inneren. Die alte Frau stützt sich schwerfällig auf ihren Stock. Sie geht langsam, so, als müsse sie sich
zwingen. Das Krankenzimmer ist fast leer, nur ein Bett steht darin, der restliche Raum ist kahl und unfreundlich.
Die alte Frau hat mit einem Blick das ganze trostlose Zimmer erfasst, und ihr Gang wird noch schwerer.
Dann endlich, über die Breite des Zimmers hinweg, wagt sie einen Blick auf die Frau, die regungslos auf einem Stuhl neben dem Bett am Fenster sitzt und leise vor sich hin pfeift.
Grete. Ihre Schwester. Ihre jüngere Schwester Grete.
Die ungekämmten, grauen Haare erinnern ein bisschen an Einstein. Ihr magerer Körper steckt in einem blauen Jogginganzug, und das weiße T-Shirt darunter ist fleckig. Nackte Füße in gesunden
Schuhen.
Jetzt hebt sie den Kopf und schaut aufmerksam zur Türe. Leise fängt sie an zu singen. Sie hat eine wunderschöne, klare, helle Stimme: "sah ein Knab ein Röslein steh'n, Röslein auf der
Heide..."
Dann verstummt sie, und ein glückliches Lächeln huscht in ihre Augen:
"Anna!"
Anna beugt sich schwerfällig über ihre Schwester, streichelt ihre Haare und sagt: "Grete, was machst du nur für Sachen."
"Ich bin in England". Ein bisschen unsicher, als könne sie es selber nicht glauben, deutet Grete mit der Hand einen kleinen Bogen an, "siehst du ja!"
Anna fährt zurück, und die jüngere Frau legt ihr die Hand auf den Arm: "Mutter!"
Anna kann und will nicht begreifen, dass das Gehirn ihrer Schwester nicht mehr funktioniert. Schon seit Jahren will sie sie aufrütteln, sie zum Spielen animieren, zum Denken, Bilder zu gucken
oder Musik zu hören. Man muss doch dagegen an kämpfen!
Anna hat sich wieder gefasst. Grete lächelt vage an ihr vorbei.
Dann: "Weißt du eigentlich, wo ich hier bin?" und mit einem Blick aus dem Fenster: "guck mal, da ist das Schwesternwohnheim!"
"Du bist gefallen", sagt Anna, "du musstest ins Krankenhaus."
"Was gibt es Neues?"
"Nichts Neues."
"Wie geht es Oma?" Wieder schnappt Anna nach Luft. "Oma ist doch schon seit 30 Jahren tot!"
"Und Willi?"
Diesmal antwortet die jüngere Frau: "Papa ist auch schon sehr lange tot."
"Was gibt's Neues?"
"Nichts Neues."
"Ich bin in England. - -
Ich weiß gar nicht, - wie bin ich eigentlich hierhin gekommen ...?" Ihr Blick heftete sich prüfend und plötzlich klar in die Augen der Nichte. - "Ich war aber schon mal in England, nicht?"
"Ja, zur Hochzeit. Mit dem großen Schiff. Und dein Walter war auch noch mit dabei. - Weißt du noch? - Was ihr für einen Spaß gehabt habt? Wie ihr gelacht habt?"
"Wie geht's Papa? Was macht Oma? -
Ich will nach Hause. Was soll ich denn hier? Ich bin doch gesund. Mir fehlt nichts. Und Walter kommt auch nicht. Ist der bei euch die ganze Zeit? Ich weiß gar nicht, warum der nicht mehr
kommt..."
"Aber Grete, Grete! - Walter ist doch.... und du bist doch im Krankenhaus, weil du untersucht werden musst. Und die sind doch bestimmt alle lieb und nett hier. Noch dreimal schlafen, und du
kannst wieder nach Hause. - Mein Gott, wie bei einem Kind..."
Anna stützt sich schwer auf ihren Stock. Die schwärzlichen Adern winden sich wie dicke Schlangen über ihren Handrücken. Anna keucht. Auch sie ist krank. Sehr krank sogar. Aber anders krank.
Unbeteiligt schaut Grete an Anna vorbei wieder aus dem Fenster: "Da ist das Schwesternwohnheim."
"Ja, Grete."
"Die sind alle richtig stur hier, find ich. Die sind nicht nett. -
Aber ich versteh ja sowieso nicht, was die sagen..."
"Wieso verstehst du die nicht?"
Gretes Blick fliegt zur Türe, und sie senkt die Stimme, "die sprechen doch alle englisch! - Meinst du, ich kann Englisch?"
Es wird Zeit zu gehen. Anna kann nicht mehr. Es nimmt sie zu sehr mit. Sie legt ihrer Schwester zum Abschied noch einmal die Hand auf die Schulter und zupft unwillkürlich an der Joggingjacke, um
die dicksten Flecken auf dem Shirt zu verdecken.
Grete schmiegt sich an Annas Hand und fängt wieder leise an zu singen.
Sie sind schon fast an der Türe, als Grete ruft, "und viele Grüße an Willi und Oma! Und sag Walter, er soll endlich nach Hause kommen. Der soll nicht immer so lange bei euch bleiben!"
..."Röslein au-hauf der Heide..."
Foto: Lutz Stallknecht, pixelio.de
Copyright: Christel Wismans
Milla Dümichen (Freitag, 24 Februar 2017 21:22)
Ich hatte Zeit und Lust deine Startseite anzuschauen. Und habe mich in deine Geschichte "Röslein auf der Heide" verliebt. Ganz traurig, aber so authentisch! Weiter viel Erfolg, liebe Christel!
Vor einigen Jahren waren wir zur Hochzeit der besten Freundin unserer Tochter nach Edinburgh eingeladen zu einer typisch schottischen Hochzeit. Es war von jeher der Traum der Braut, dort oben im Schloss in der 1000 Jahre alten St.Margaret's Chapel zu heiraten. Da passen gerade mal 18 Leute rein, rechts zehn und links acht. Das bedeutete, dass die meisten Hochzeitsgäste draußen im scharfen Wind ausharren mussten. Wir nicht, wir durften mit rein, weil wir ja ihre German parents sind.
Es war ein einmaliges Erlebnis. Allein der Anblick der Herren im Kilt und vollem Ornat. Das hat schon was. Ein Dudelsackspieler geleitete uns. Gefeiert wurde später in einem uralten Gewölbe in den Katakomben unterhalb der Stadt. Mit schottischer Musik und schottischen Volkstänzen. Mit nichts hier bei uns zu vergleichen. Eine völlig andere Kultur. Ich kann es gar nicht beschreiben. Und ich hätte es unendlich genossen, wenn...
... wenn ich nicht in der Nacht vor unserem Flug eine Vision gehabt hätte: ich sah mich im Kleid mit High Heels zur Hochzeit schreiten. Also habe ich morgens noch schnell ein paar äußerst elegante, echt hochhackige Pumps gekauft, das ursprünglich geplante Hosen-Outfit ad acta gelegt und ein Kleid eingepackt...
Was soll ich sagen: Unser unkaputtbarer, alter Travel-Chaos war wieder mit uns.
Ganz Edinburgh war aufgeklappt und wurde eben zu dieser Zeit straßenmäßig erneuert. Unser Taxi, das uns zum Schloss hoch bringen sollte, lud uns schon mindestens einen Kilometer vorher aus. Dabei ist der Weg zum Schloss hoch mindestens so steil und steinig wie der Weg in den Himmel. Oder gefühlsmäßig eher in die Hölle, jedenfalls, wenn man mit Arthrose Füßen auf High Heels bergan staksen muss. Hätte ich die Qualen auch nur ansatzweise vorher geahnt, ich hätte glatt meine alten Treter angezogen.
So aber bohrte ich Halt suchend dicke Dellen in den Arm meines armen Mannes und eierte inmitten von Hunderten Japanern und anderen Touris mit Kameras im Anschlag mit schmerzverzerrtem Gesicht Richtung Schloss. Um uns herum klickten die Digis und fingen begeistert die neuen, unerwarteten Motive ein, die wir Vier ihnen in unserem Hochzeits-Outfit lieferten. Schon sehr bald wusste ich vor lauter Schmerzen nicht mehr, warum ich auf dem Weg zur Kapelle unbedingt über Canossa gehen musste.
Und niemand wollte mich tragen.
Ich jammerte, fluchte und drohte mit Enterbung, aber ich musste selber Schritt für Schritt laufen. Ich litt mindestens so sehr wie damals Aschenputtels Schwestern mit den abgehackten Zehen.
Als wir endlich oben im Schloss ankamen und ich erleichtert aufatmen wollte, entdeckte ich zu meinem Entsetzen, dass die kleine Kapelle noch etliche Kopfsteinpflaster- Serpentinen höher lag und meine Qual noch längst nicht beendet war.
Und noch immer wollte mich niemand tragen...
Die Trauung war eine Erleichterung für meine Füße, raus aus den Schuhen, und wenn es nur für eine halbe Stunde war. Aber dann war aus Carol Mrs. Cooke geworden, und ich musste meine gequälten Füße wieder zurück in ihr elegantes Gefängnis zwängen.
Der Rückweg in die Stadt war noch heftiger, weil es jetzt auch noch bergab ging. Ich wollte tapfer sein und die Schmerzen bis zum Hotel heldenhaft ertragen, aber zu meinem Entsetzen steuerten wir erst noch einen weitläufigen Park an für die Fotosession. Irgendwann wollte ich mich einfach fallen lassen und nur noch sterben.
Aber ich durfte nicht.
Als wir dann irgendwann endlich, vor Hunger und Durst ganz schwach, von meinen Schmerzen ganz zu schweigen, in dem Lokal ankamen, begann nach einem Glas Champagner (ich hatte zwei!) eine Sightseeing Tour durch die unterirdischen Gewölbe der Stadt.
Edinburgh von unten? Wieder laufen? Und dann noch durch die bestimmt nicht mit weichem Gras bewachsenen Katakomben? Leise trat ich den Rückwärtsgang an. Aber dann hallte die Stimme des Führers durch die nur notdürftig beleuchteten Gewölbe. Er warnte die Pumps-Damen vor dem unebenen Lehmboden.
Halleluja! Das war mein Stichwort. Er hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da hatte ich die Schuhe schon in der Hand. Auf Strümpfen (einer unkaputtbaren Stützstrumpfhose aus dem Nachlass meiner Mutter) tapperte ich glückselig durch die eisigen Gruften, dankbar für die Kälte an meinen Füßen. So konnte ich diesen Hochzeitstag nach vielen qualvollen Stunden endlich unbeschwert genießen.
Auch später blieben meine hübschen neuen Schuhe unter dem Stuhl stehen. Den ganzen Abend lang. Nachts bin sogar auf Strümpfen zurück ins Hotel.
Denn es wollte mich ja keiner tragen...
Copyright: Christel Wismans
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