Uralt und doch immer wieder aktuell. Heute stand ich wieder davor:
Ein vergilbtes Papier, dünn und oft geglättet, hängt seit Jahren bei uns gerahmt an der Wand zwischen den Fotos.
Es ist ein Gedicht, das mein Opa für meinen Vater schrieb, als dieser oben im Eismeer als Funker bei der Marine war.
Damals, als es schon verdammt ernst wurde für "Sieger Deutschland".
Damals, als mein Opa, der sich seit dem ersten Weltkrieg mit einem schlecht sitzenden Holzbein durchs Leben quälte, sich zuhause an der Saale Sorgen machte um seinen ältesten Sohn.
Damals, als es auf einen kalten Winter zuging, und er keine Hoffnung mehr hatte auf Frieden und Sicherheit.
Damals, als es um alles ging: Leben oder Tod.
Damals schrieb mein Opa, der Ur-Urgroßvater meiner Enkel, ein Gedicht voller Kraft und unnachgiebiger Hoffnung für seinen Sohn zu seinem 23. Geburtstag.
Dieses Gedicht habe ich vor vielen, vielen Jahren, als mein Vater schon längst tot war, zwischen vergilbten Fotos gefunden.
Ich habe es geglättet und gerahmt und wie ein wertvolles Zeit- und Gefühlsdokument behandelt, was es ja auch ist:
"Zum Geburtstag meines Sohnes im hohen Norden am 9.9.1943
Jeder Mensch hat einen Glauben
Jeder Mensch hat ein Ziel
Doch die Gedanken all der Menschen
Sind gar zu viel
Soviel wie Sterne am Himmel stehn
Soviel wie Stunden und Tage vergehn
Wie Wolken ziehen hin und her
Wie Tröpflein fallen in das Meer
Heut sind es 23 Jahre
Als du noch Kind im lock'gen Haar
Die Jahre kehren nie zurück
Verflossen die Zeit, die Jugend dahin
Du bist nun Mann geworden
Dein Glaube, Gedanken und dein Sinn
gilt deinen Lieben vom hohen Norden
Drum wünschen wir dir Gutes viel
zu deinem Wiegenfeste
Dass du dein' Glauben an dein Ziel
Erstreben sollst aufs Beste
Stohs an mein Sohn an unser Glas
Im Glauben und Gedanken
Trink auf den Grund das edle Nahs
Auf Glaube und Ziel, nicht Wanken
Geschrieben am 30. August 1943
dein Vater"
Beim Auf- und Ausräumen entdeckte ich alte Dokumente, von denen ich hier nur eins vorstellen möchte:
Es handelt sich um ein kleines Jahrbüchlein aus Kriegszeiten, in das mein Vater in winziger Bleistiftschrift Notizen geschrieben hat.
Ich zitiere ohne weiteren Kommentar:
Am 20. April 1942 um 07.45 Uhr durch Bombenvolltreffer am Feldflugplatz in Kirkenes am Eismeer verschüttet. (Splitter Explosionsgeschoss)
Am 8.9.1945 in Wesselburen Abmarsch nach Lindau.
Am 9.9. ( der 25. Geburtstag meines Vaters ) im Viehwaggon nach Belgien. Ankunft am 11.9.
Kriegsgefangenenlager
2228
Camp 6 7 Komp.
La Hulpe
27 Km südwestl. Von Brüssel
Am 11.12. nach Camp 11 übersiedelt.
9.Komp., Zelt 10, von da am 22.12. zum C.A.S. (Ruhrverl.) 23.12. zum Camp 20 (Erholungscamp) am 5.1.46 übersiedelt nach Camp 18.
Am 18.1. eingeschleust im Revier und sofort zum C.A.S. (Difterie). A, 19.1. 11Uhr im Sanka zum Lazarett Brüssel eingeliefert. Eine frohe Botschaft: Schon in den nächsten Tagen sollen wir nach einem Heimatlazarett überliefert werden. Alle Kameraden freuen sich sehr darauf.
Sonntag den 20.1. gutes Essen, sogar am Nachmittag ein Stück Streuselkuchen, großartig doch nur ein Leckerbissen.
Am 23.1. mit dem Sanka nach Ostende ( nicht zu lesen) WARD6. Montag den 4.2. Lähmungserscheinungen im linken Fuß. Jeden Tag Spritze (Beatrixin) in den Oberarm. Am 9.2. 2.Suchkarte nach Hause abgeschickt. Einen Brief an J.Broseler, eine Karte an Helmut Husemann abgeschickt. Am 8.2. 2.Abstrich – negativ, am 11.2. 3.Abstrich –negativ. 14.2. Verlegung nach Station IV. Bin vorgeschlagen zur Evakuierung nach Deutschland. Am 25.Februar läuft der Lazarettzug von Ostende nach Königslutter bei Braunschweig. Transport wird bis auf weiteres verschoben.
Text gescannt vom Original
Auf der Mai-Seite stehen der Name und die Adresse meiner Mutter, Lotti Singendonk. Links ihre Kriegs-Adresse als Funkerin und rechts ihre Privat-Adresse, auch Rezepte, Schlagertexte, Adressen, alles, alles habe ich in diesem zerfallenen Büchlein gefunden - zwei Jahre vor meiner Geburt.
Aber auch etliche andere Papiere aus der Zeit Anfang 50 haben meine Eltern aufgehoben, Arbeitserlaubnis, Grenzübergangsbescheinigung, Zeugnisse meines Vaters aus Schule und Lehre. So vieles, so alt, so kostbar...
2 Kommentare:
Rosa(Donnerstag, 11 Februar 2016 15:16)
Liebe Christel,
es muss ein sonderbares Gefühl sein, dieses alte Büchlein in den Händen zu halten und zu wissen, dass es einst Deinem Vater gehörte und ihn in so schrecklichen Zeiten begleitete. Er
schrieb diese Zeilen, die jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr alle lesbar sind ... Was dachte er dabei? ... Wie ging es ihm? ... In Gefangenschaft zu sein - das Schlimmste, was einem
Menschen passieren kann ...
Ich hatte letztes Jahr für einen unserer Leser Dokumente übersetzt (russisch - deutsch), es ging auch um seinen Vater, der allerdings aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr zurückkehrte.
Vor mir lagen alte Fragebögen, Lageraufnahme-Papiere, dann schließlich Berichte über den Tod und die namenlose Beerdigung irgendwo auf einem Friedhof Nummer so und so ... und ich hatte
einen Kloß im Hals ... Was fühlte der noch so junge Mann, als er die ganzen Fragen zu seiner Familie beantwortete, als er die Namen und das Alter seiner Frau und seiner drei Kinder angab
... mit dem Wissen, dass er sie womöglich nie mehr sehen wird? ... Sein Sohn, der mich um die Übersetzung gebeten hatte, selbst schon 70 Jahre alt, hatte Tränen in den Augen, als wir
darüber sprachen ...
Auch mir ging das alles sehr nahe, und ich kann mir gut vorstellen, wie Du Dich fühlst, wenn Du das Notizbuch Deines Vaters auch nur berührst ...
Herzliche Grüße
Rosa
Flora von Bistram(Sonntag, 05 März 2017 07:45)
Zeitdokumente, immer wieder sehr berührend. Ich sitze oft stundenlang, um die alten Briefe und Dokumente meiner Vorfahren, ihren Briefverkehr mit Freunden zu entziffern.
Dann entfaltet sich eine Zeit, deren Härte, aber auch in ihrer Ordnung wir nur ganz leicht erahnen können.
Liebe Grüße Flo
... Am nächsten Morgen kroch Anna wie üblich, wenn ich da war, mit Eisbeinen zum mir ins Bett, „Oma, du hast doch gesagt, du erzählst mir irgendwann weiter von früher. Hast du mal überlegt? Erzählst du mir eine Geschichte?“
„Ja, dann komm man her, ganz nah, damit ich dich auftauen kann, und dann erzähl ich dir, wie es war, als ich noch ein Kind war. Damals. –
Wie lange bist du schon wieder auf? Kannst du dir keine Socken anziehen und den Bademantel oder Jogginganzug? Mann, Mann, Mann! Du bist so kalt wie wir früher im Winter. Aber wir hatten keine freie Auswahl an Klamotten zum Überziehen, so wie ihr heute. Und Heizung auch nicht.“
„Wie? Keine Heizung, Oma? Aber im Winter? Wie habt ihr es dann denn warm gekriegt?“
„Unser Leben spielte sich eigentlich nur in der Küche ab. Denn da gab es den einzigen Ofen. Einen großen, eisernen Ofen, der mit Holz und Kohle gefüttert wurde. Morgens früh wurde er meistens von der Mutter angeheizt. Wie beim Lagerfeuer: erst mit Holz und Zeitung. Und wenn das dann schön brannte, wurden die Kohlen oder Brikett nach gelegt. - Kohlen kennst du gar nicht, oder? Das ist Brennmaterial in der Form von kleinen, schwarzen Eiern. Oder die Brikett – ja, Gott, die sind geformt wie, - wie eine Fernbedienung vielleicht. In der Größe etwa. Die musste man beim Kohlenhändler kaufen. Und der brachte sie dann mit seinem Wagen- erst mit dem Pferd, dann später mit dem Lastwagen-, und kippte sie über eine Art kleine Rutsche durch ein Kellerfenster rein in den Keller. Das war vielleicht eine Sauerei! Von da aus musste man sie selber weiter schleppen in den eigenen Kohlenkeller. Und natürlich alles wieder sauber machen. Kohlen sind schwarz, weißt du! Kohlrabenschwarz! Daher kommt der Begriff. Morgens und abends wurden die Kohlen oder Briketts mit einer Art Kanne aus dem Keller geholt, hoch in die Wohnung gebracht und erst mal in den Kohlenkasten unter dem Ofen gekippt. So war immer Nachschub zur Stelle, wenn man Kohlen fürs Feuer brauchte. Die haben dann lange gehalten. Der Ofen durfte ja den ganzen Tag über nicht ausgehen, darauf wurde ja schließlich auch gekocht, Elektroherd oder Gasherd war noch nicht. Alles auf Kohle. Ein Wasserkessel stand immer darauf, damit wir heißes Wasser hatten, und hinten in der Ecke meistens auch noch das schwere, eiserne Bügeleisen. Das kriegte ich dann im Winter abends schön mit einem Handtuch umwickelt an die Füße gelegt, wenn das Bett so kalt war wie eine nasse Wiese im Winter. Und wenn abends spät die Familie längst im Bett lag, saß mein Vater noch lange mit einem Buch in der Hand und den kalten Füßen im offenen Backofen in der Küche, bis der Ofen kalt wurde und er notgedrungen auch ins Bett musste. Im Winter war es im Schlafzimmer kaum wärmer als draußen, eise-eise-eisekalt, so kalt, dass wir manchmal mit dicken Sachen an schlafen gegangen sind. Bei Gewitter sowieso, ganz gleich, wie kalt oder warm es war. Da haben wir in voller Montur im Bett gelegen, samt Mantel und Schuhen, hatten den Gartenschlauch für alle Fälle parat liegen zum Löschen, falls der Blitz einschlägt und es brennt, und die Metallkassette mit allen wichtigen Dokumenten und Geld stand griffbereit neben dem Bett. Tja, so war das früher.“
Anna kuschelte schweigend, die Augen geschlossen. Schlief sie?
Nein, sie war wach, stupste mich leicht: „Erzähl weiter, Oma.“
„Also, im Winter war es wirklich eiskalt im Haus. Die Fenster hatten, wenn überhaupt kurz nach dem Krieg, nur einfache Scheiben. Oft waren sie auch nur mit Folie oder Zeitung abgedeckt, aber daran kann ich mich schon nicht mehr erinnern. Der Frost malte wunderschöne Bilder auf das dünne Glas, ganz fantastische Eisblumen, so was kennst du gar nicht, aber die Bilder hätten dir gefallen. Natürlich konnten wir deswegen aber auch nicht mehr nach draußen sehen, also haben wir die Scheiben angehaucht, und durch den warmen Atem auf den Scheiben kriegten wir dann ein Guckloch nach draußen. In richtig schweinekalten Wintern war sogar eine dünne Eisschicht auf den Wänden. Innen. Im Schlafzimmer!
Wir hatten viel Schnee und heftigen Frost damals. Aber wenn du glaubst, wir hätten Strumpfhosen, Boots und einen dicken Schneeanzug gehabt, dann hast du dich geirrt. Mädchen durften überhaupt keine langen Hosen tragen. Solche Hosen gab es auch gar nicht. Und Jeans, Jeans kamen erst von Amerika zu uns rüber, als ich schon verheiratet war. Lange Hosen für Männer waren Stoffhosen, oft aus alten Uniformen geschneidert. Aber die durften nur Männer tragen. Selbst Jungs bis etwa 15-16 mussten kurze Hosen tragen. Da brauchst du gar nicht zu kichern! Das war so! Mit Strickstrümpfen und Leibchen. Die kratzten vielleicht! Sei froh, dass ihr so was nicht mehr anziehen müsst heute.“
„Leibchen? Was sind denn Leibchen, Oma?“
„Oje, Leibchen. .. Also, tja, das waren- Strumpfhalter, kennst du auch nicht, also so eine Art Gurt um den Bauch mit so Dingern dran-… Mensch, wie heißt denn so was? - Strapse nee, auch nicht. Also: das musst du dir so vorstellen: Wir hatten diesen Gurt umgebunden mit Häkchen und Ösen und daran waren vorne und hinten jeweils zwei Strapse, also, so Dinger, wo man das Gegenstück an den Strümpfen mit einhaken konnte. Also – tut mir Leid, ich kann’s dir nicht erklären, das war einfach so und sei froh, dass ihr die Dinger heute nicht mehr habt.“
„Aber Oma, wenn ihr keine warmen Schneeanzüge oder so was hattet, noch nicht mal lange Hosen, was habt ihr denn dann angezogen?“
„Wir Mädchen hatten meistens ein Kleid an, oft mit Schürze drüber, um das Kleid zu schonen, oder einen Rock. Irgendwas, was größeren Kindern nicht mehr passte, oder was die Mutter aus alten Resten schneidern konnte. Oder Gestricktes, Gehäkeltes. Was immer an Resten da war, wurde verwertet. Und – natürlich hatten wir genau dieselben fiesen Kratzstrümpfe mit Strumpfhaltern an wie die Jungs. Meistens waren sie auch noch hässlich braun!
Kannst du dir vorstellen, wie oft ich blau gefroren von der Schule nach Hause gekommen bin? Nur mit einem dünnen Mäntelchen über dem Kleid? Dünnen Schuhen? Und Strümpfen, die nur bis zum halben Oberschenkel gingen? Und dann auf dem Fahrrad gegen den beißenden Ostwind an? Ohne schützende Häuser oder Bäume neben der Straße? Eine halbe Stunde Weg?
Wie oft hat meine Oma mich wieder auftauen müssen, wenn ich aus der Eiseskälte in die Bollerwärme unserer Küche kam. Dann hat sie meine Hände unter ihre warmen Achseln geklemmt, bis langsam wieder Leben rein kam und sie anfingen, fürchterlich zu prickeln. Das war ganz normal damals.“
Ich schüttelte mich in der Erinnerung, als würde ich durch ein eisiges Eisbärbecken gezogen. „Puh, damals war es irgendwie kälter als heute, glaube ich manchmal. Aber vielleicht meine ich das auch nur, weil wir immer so gefroren haben im Winter. Das kannst du dir nicht vorstellen, hm?“
Anna schüttelte leicht den Kopf. „Aber – wieso, Oma, das verstehe ich nicht. Deine Oma? Wieso deine Oma? Wo war denn deine Mutter? Warum war die denn nicht da?“
„Na, die musst arbeiten. Geld verdienen. Und da meine Oma sowieso bei uns wohnte, war sie ja auch immer da, konnte kochen, Haushalt machen und unter anderem: mich auftauen, wenn ich im Winter durchgefroren nach Hause kam.“
Ich drückte Anna leicht an mich. Ich sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Wahrscheinlich stauten sich Fragen über Fragen in ihrem Hirn auf. Sie brauchte Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Wollen wir aufhören und ein anderes Mal weiter erzählen?“
„Nein, erzähl weiter.“
„Also - ich kann mich auch noch gut an Eisgang auf dem Rhein erinnern.
Kannst du dir vorstellen, dass der breite Rhein dick zugefroren war? Mit mächtigen Eisschollen, die sich hoch aufeinander getürmt und ineinander verkeilt hatten?
Ich war noch ein Kind, etwa so alt wie Max heute, als der Rhein zum letzten Mal so richtig wie früher zugefroren war. An einem Sonntag zogen wir uns fein an und marschierten zur Stadt an den Rhein. Solange ich klein war, kam ich nur selten in die Stadt. Wir wohnten außerhalb, und da der Weg fast noch unbebaut war und überall noch die Trümmer lagen, schien er mir immer trostlos und endlos weit. Und du weißt ja: kein Auto, kein Bus, keine Bahn. Alles zu Fuß.
Jedenfalls, wir kamen zum Rhein, dahin, wo heute die Promenade ist, und ich staunte Bauklötze. Es gab keinen Fluss mehr, kein Wasser, nur noch riesige, schneegepuderte Eisschollen, die sich bis ans Ufer türmten. Ganz vorsichtig kletterten wir vornan auf eine dieser Schollen und ließen uns fotografieren. Ich immer ganz fest an der Hand meiner Eltern. Dieser Rhein war mir nicht geheuer. Ich kann mich auch nicht erinnern, ob der Rhein jemals wieder so ausgesehen hat wie damals...“
„Oma, aber warum ist der Rhein denn nie mehr zugefroren?“
„Weißt du, mit den Jahren ging es mächtig aufwärts mit Deutschland, und es entstand immer mehr Industrie am Rhein. Und da wurden munter die Abwässer und sonst was in den Fluss geleitet, von allen Seiten, von der Industrie und auch von den Schiffen. Dadurch erwärmte sich das Wasser, und der Rhein konnte nicht mehr zufrieren. Teils schillerte er bunt von Chemikalien, die die Chemiefabriken einfach so in den Rhein laufen ließen ohne Rücksicht auf Verluste. Viele Fische starben in der warmen Chemie-Brühe und das Wasser des Rheins blieb Wasser, egal, wie kalt der Winter war. …
Ich erinnere mich aber auch an die warmen Sommernachmittage in den Rheinwiesen, damals, als man noch im Strom schwimmen konnte. Mit meinen Eltern zog ich dann bewaffnet mit einer fadenscheinigen Decke, einer Thermoskanne voll "Muckefuck", das war so eine Art Ersatzkaffee ohne Koffein, den durften auch Kinder trinken, und vielleicht ein paar Kirschen oder anderem Obst aus dem Garten an den Rhein. Neben uns grasten friedlich die rotbunten Kühe, und ich durfte unter Aufsicht und mit einem Schwimmreifen um den Bauch ins seichte Wasser. Das war für mich damals Abenteuer pur, und ich tat ganz wichtig, so, als könnte ich schwimmen.
Nein, ich konnte natürlich nicht schwimmen, wo hätte ich es denn auch lernen sollen? In einer Wooj, einem alten Baggerloch? Das hätten meine Eltern niemals zugelassen. Dann gab es damals wohl die "Badeanstalt Hellas". Aber sie war auch nur ein abgeteiltes Stückchen Rhein unterhalb der Ölwerke. Und ziemlich genau dort war vor vielen Jahren die Schwester meiner Mutter ertrunken. Mit sechzehn! Wann immer ich mal den Versuch startete, wie meine Schulfreundinnen dort baden zu gehen, dann erstarrte meine Oma: „Kiiiind, denk an Tante Käthe!" Wie sollte ich da wohl schwimmen lernen?“
Ich sah Anna streng ins Gesicht:
„Aber nicht, dass du jetzt denkst, das hat mit Schwimmen oder nicht- Schwimmen - können zu tun! Komm mir ja nie auf die Idee, jemals im Rhein zu baden. Nie! Nie! Nie! Hörst du? Der Rhein hat eine wahnsinnige Strömung und massenhaft Strudel. Und durch die vielen Schiffe, die heute ständig fahren, ist das Wasser unberechenbar. In einem Moment stehst du nur bis zum Knöchel im Wasser, und dann- ratzfatz- bist du weg! Selbst die besten Schwimmer saufen dabei ab.
So, Schluss jetzt für heute. Ein andermal erzähle ich weiter, ok?“ ...
Kommentare: 1
#1
Rosa(Montag, 04 Januar 2016 18:53)
Liebe Christel,
Deine 'Winter-Geschichte' habe ich mit großem Interesse gelesen und gestaunt, weil der Winter Deiner Kindheit doch so viel Gemeinsames mit dem Winter meiner Kindheit hat. Auch wir hatten einen eisernen Ofen, der mit Holz und Kohlen beheizt wurde. Darauf wurde natürlich auch gekocht. Ich erinnere mich an die leckeren Pellkartoffeln aus dem Kessel ... Und wie oft kam ich halberfroren nach Hause und meine Hände und Füße schmerzten beim 'Auftauen'! :-)
Schön, dass Du Deinen Enkelkindern von Früher erzählst. Für sie hören sich Deine Geschichten bestimmt wie spannende Abenteuer an.
Ich lese gerade in Deinem Buch und bin neugierig, was ich noch so alles erfahren werde. Bei der Gelegenheit möchte ich mich nochmal ganz herzlich für die schöne Widmung bedanken.
Liebe Grüße
Rosa
Embrica decora, die Stadt am Strom
Bei Flusskilometer 835 liegt Emmerich am Rhein, ein Städtchen, in dem ich seit meiner Geburt lebe. Die Stadt, die umliegenden Dörfchen, die Wiesen und Felder, der Eltenberg und der Fluss gehören
zu meinem Leben.
Ich denke, ich könnte auch gut und gerne ganz woanders leben und würde absolut nichts vermissen.
Außer ein paar bestimmten Menschen natürlich.
Und vielleicht den Rhein.
Die neue Rheinpromenade vielleicht auch noch mit ihrem Treidelpfad, von wo aus unser Johann mit wachsender Begeisterung stundenlang Steine ins Wasser wirft, wenn er mal hier ist.
Und, na ja, den Damm, den würde ich auch bestimmt vermissen, den endlos langen Damm rechts und links von Emmerich: rechts bis nach Lobith in Holland und links bis Ende Praest, wo wir oft
stundenlang mit den Rädern unterwegs sind zwischen Schafen, Klee, Kötteln und Blumen. Immer im Grünen, immer mit Blick auf die bunt bevölkerten Rheinwiesen, oft auf den Rhein selber mit seinen
Schleppkähnen, Schubschiffen und Ausflugsdampfern.
Wenn wir von Holland kommen und schon etliche Kilometer auf dem Tacho haben, der Popo sich wie totes Leder anfühlt und wir langsam erschlaffen, klammern wir uns an das optische Näherkommen der
Brücke: Guck mal, bald haben wir es geschafft, höchstens noch sechs Kilometer..., drei vielleicht noch, gleich sind wir da...
Und dann, schweißgebadet, aber glücklich, irgendwo draußen ein großes, kaltes Bierchen zischen...
Doch, das würde ich bestimmt vermissen, aber sonst?
Ich habe oft gemeckert, weil es mit Emmerich in meinen Augen in den letzten Jahren immer mehr bergab ging:
über Kommunalpolitiker, die sich auf Kosten der Stadt profilieren wollten,
über das Aufreißen immer derselben Straßen nacheinander für verschiedene Versorgungsunternehmen,
über die zunehmende Vereinnahmung unserer Stadt durch Fremde, die zwar kaum unsere Sprache beherrschen, sich aber benehmen, als gehöre ihnen alles, (das betrifft NICHT die heutige Situation der
Flüchtlinge!!!)
über zunehmende Verrohung und Unsicherheit,
Alkies, Junkies, Kriminelle, Null-Bock-Kids, die blind und taub durchs Leben latschen,
die Zweiteilung der Stadt durch die Glückaufschranke,
die drohende Betuwe-Line;
und ein Kino, ein gemütliches Café und ein richtiges Kaufhaus vermisse ich auch...
Aber trotzdem, wenn wir dann Schützenfest alle in schöner Regelmäßigkeit aufstehen, uns einhaken und singen: "Emm'rich, ich hab dich auserkoren, Heimat und treu dir zu sein.
In deinen Mauern aus uralter Zeit...schön ist's bei uns am Niederrhein..."
also, das finde ich für mich schon ein bisschen peinlich und albern, aber irgendwie, wenn ich ganz ehrlich bin, kriege ich auch jedes Mal eine ganz kleine Gänsehaut dabei.
Erst war der Rhein. Dann kam Emmerich.
Er hat Emmerich gemacht und geprägt. Schon im neunten Jahrhundert bauten sich die ersten Siedler hier ein Haufendorf.
Die überreichen Möglichkeiten, die der Rhein den Menschen bot, trugen dazu bei, dass die Ansiedlung beständig wuchs und reicher wurde. Schon 1233 bekam Emmerich die Stadtrechte.
Schon früh hatten wir eine der angesehensten, ältesten, wenn nicht sogar die älteste Lateinschule, die einzige Schule nördlich der Alpen, die klassisches Griechisch lehrte.
Emmerich wurde bekannt und hatte einen guten Ruf. Es zog namhafte Leute an, Gelehrte, Händler und Künstler kamen nach Emmerich. Sogar der spätere Preußenkönig Friedrich I verlor hier sein Herz.
Zwar nicht an die Stadt, sondern an das "schöne Käthchen von Emmerich", eine Wirtstochter, die ihm so nachhaltig den Kopf verdrehte, dass er nie mehr von ihr los kam. Heißt es.
Emmerich hatte sich den Namen "Embrica decora" verdient.
Zwar gab's auch immer wieder Zerstörung durch Kriege, Feuersbrunst, Seuchen und Epidemien, aber die Emmericher waren ein zähes Völkchen. Was kaputt ging, wurde jedes Mal wieder neu aufgebaut.
Besonders die Martinikirche, an deren Fundamenten der Rhein sein endgültiges Bett gefunden hatte, war immer wieder betroffen.
Ohne den Rhein gäbe es kein Emmerich. Er war schon immer der Warenumschlagplatz, hat von Anfang an den Handel getragen, und bei seinem Fischreichtum brauchte niemand zu hungern.
Solange er Normalwasser führte, war alles in Ordnung: es gab regen Verkehr auf dem Wasser, hölzerne Frachtschiffe und Segelboote drängten sich, und der Handel blühte.
Aber wehe, er führte Hochwasser oder gefror...!
Dann wurde er zum reißenden, alles überschwemmenden Giganten, der die Stadt überflutete und an ihren Grundmauern zerrte.
Oder bei Eisgang: Dann türmten sich meterhohe Schollen kreuz und quer übereinander, und wenn das Tauwetter einsetzte, krachten und barsten sie tonnenschwer ans Ufer.
An Eisgang kann ich mich auch noch erinnern. Ich war noch ein Kind, als der Rhein zum letzten Mal so richtig wie früher zugefroren war.
An jenem Sonntag zogen wir uns fein an und marschierten zur Stadt an den Rhein. Solange ich klein war, kam ich nur selten in die Stadt. Wir wohnten ein wenig außerhalb, und da der Weg fast noch
unbebaut war und überall noch die Trümmer lagen, schien er mir immer trostlos und endlos weit.
Jedenfalls kamen wir zum Rhein, und ich staunte Bauklötze.
Es gab keinen Fluss mehr, nur noch riesige, Schnee gepuderte Eisschollen, die sich bis ans Ufer türmten. Ganz vorsichtig kletterten wir vorne an auf eine dieser Schollen und ließen uns
fotografieren. Ich immer ganz fest an der Hand meiner Eltern. Dieser Rhein war mir nicht geheuer.
Ich kann mich nicht erinnern, den Rhein jemals wieder in diesem Zustand gesehen zu haben.
Im Zuge der Industrialisierung und der damit verbundenen Erwärmung des Wassers starben nicht nur die Fische, nein, der Rhein gefror auch nicht mehr. Sein Wasser blieb Wasser, egal, wie kalt der
Winter war.
Ich erinnere mich aber auch an die warmen Sommernachmittage in den Rheinwiesen, damals, als man noch im Strom schwimmen konnte. Mit meinen Eltern zog ich dann bewaffnet mit einer fadenscheinigen
Decke, einer Thermoskanne voll "Muckefuck" und vielleicht ein paar Kirschen oder anderem Obst aus dem Garten an den Rhein. Neben uns grasten die rot bunten Kühe, und ich durfte unter
Aufsicht und mit einem Schwimmreifen um den Bauch ins seichte Wasser.
Das war für mich damals Abenteuer pur, und ich tat ganz wichtig, so, als könnte ich schwimmen.
Ich konnte natürlich nicht schwimmen, wo hätte ich es denn auch lernen sollen? In einer Wooj, einem alten Baggerloch? Das hätten meine Eltern niemals zugelassen.
Dann gab es damals wohl die "Badeanstalt Hellas". Aber sie war auch nur ein abgeteiltes Stückchen Rhein unterhalb der Ölwerke Germania. Und ziemlich genau dort hatte vor Jahren der Rhein die
17jährige Schwester meiner Mutter geholt.
Wenn ich mal den Versuch startete, wie meine Schulfreundinnen dort schwimmen zu gehen, dann erstarrte meine Oma: "Kiiiind, denk an Tante Käthe!"
Wie sollte ich schwimmen lernen?
Was meine Enkel heute ja gar nicht verstehen können.
"Aber Oma, warum warst du denn nicht in einem Schwimmkursus im Embricana?"
Übrigens warne ich ausdrücklich davor, heute noch im Rhein zu baden. Auch wenn an warmen Sommertagen die kleinen Sandbuchten immer noch dazu verlocken...
Es ist absolut lebensgefährlich.
Die ohnehin schnelle Strömung potenziert sich mit dem Schiffsverkehr. Im einen Moment steht man noch harmlos bis zum Knie im Wasser, im nächsten ist der Boden weg und das Wasser steht einem bis
zum Hals. Vor allem für Kinder ist der Rhein lebensgefährlich!
Aber noch rechtzeitig in meine frühe Teenagerzeit fiel der Bau einer richtigen Badeanstalt, in der wir künftig unsere Sommer verbrachten. Ums Schwimmen ging's dann eigentlich gar nicht mehr,
sondern nur noch darum, dekorativ eine möglichst attraktive Figur zu machen.
Das war auch noch die Zeit, in der wir mit der Ponte übersetzen mussten, wenn wir auf die andere Rheinseite, zum Beispiel nach Kleve, wollten. Die Personenfähre legte in Höhe der Martinikirche
an. Wenn man wollte, konnte man sein Fahrrad mitnehmen. Oder man ließ sich drüben mit der Straßenbahn fahren.
Wenn ich vielleicht dreimal in meinem Leben rüber gefahren bin?
Das war Luxus, und wenn man keinen zwingenden Grund hatte, blieb man auf der eigenen Rheinseite.
Aber dann bekamen wir eine Brücke.
Und was für eine!
Eine 803 Meter lange, elegante Hängebrücke. Eine originalgetreue kleine Schwester der großen Golden Gate Bridge in San Francisco. Und das für Emmerich!
Das war ein Ereignis!
Am 3.9.1965 wurde sie offiziell mit einem Riesenfeuerwerk eingeweiht.
Zur Feier des Tages hatte ich einen Teil meines Lehrlingsgehalts von DM 75,- auf den Kopf gehauen und mir ein rasantes, schwarzes Kleid gekauft. Und als es abends dämmerte, kletterten wir, ich
mit hohen Stöckelschuhen, über Stock und Stein und Zäune, um auf irgendeiner der Kribben im Rhein Platz zu finden fürs Feuerwerk und vielleicht ein bisschen verstohlenes Knutschen im Schutze der
Dunkelheit.
Das Feuerwerk war absolut fantastisch. Tausende und abertausende von funkelnden Sternen schossen in den Abendhimmel, sprühten, glitzerten und tanzten wie kostbare Diamanten in der Sonne, bevor
sie sich abwärts stürzten und kopfüber ins dunkle, unbeteiligte Wasser eintauchten.
Kaum war der letzte Stern erloschen, rannten wir zurück auf die Straße, um noch bei Sluyter im Saal ein bisschen tanzen zu gehen. Ich musste nämlich immer pünktlich zuhause sein.
Früh pünktlich, ich war ja noch keine 18!
Zur Eröffnung der neuen Rheinpromenade gab es wieder ein gigantisches Feuerwerk. Wie wird es wohl werden, wenn die Brücke im kommenden September 50 (2015) Jahre alt wird?
Das absolut größte und absolut vernichtendste Feuerwerk allerdings haben die Engländer über Emmerich abgeschossen.
Am 7.10.1944 bombardierten sie auf dem Rückweg von Kleve noch eben ausgiebig unser Emmerich.
Mit schätzungsweise 750 Bombern brachten sie uns Tod und Zerstörung.
Was Seuchen, die große Feuersbrunst und Naturkatastrophen in den vergangenen Jahrhunderten nicht geschafft hatten, das schafften sie in 38 Minuten.
Der Himmel brannte, die Stadt brannte, der Rhein brannte.
97% von dem, was gerade eben noch Emmerich gewesen war, wurde ausgelöscht im Bombenhagel.
Nichts war mehr, wie es war. Nichts stand mehr, wo es stand.
Rund 600 Menschen starben in dem Inferno.
Gut 700 Jahre Stadt weg, einfach ausradiert.
Auch in unserer Siedlung stand kaum noch ein Haus, das bewohnbar war. Alles platt, rauchende Trümmer, tote Nachbarn, Frauen und Kinder.
Meine Oma, die zu der Zeit mit einer Tochter allein Zuhause war, hat sich im Straßengraben in einem Krüpper verkrochen und so überlebt. Als alles vorbei war, sammelte sie die überlebenden
Nachbarn, die ganz ausgebombt waren und nahm sie in ihrem Keller auf. Mal drei, mal vier Familien, mal einzelne Menschen, so, wie sie gerade eine Betondecke über ihrem Kopf benötigten.
Dächer gab es nicht mehr.
Ich kann mich gut an die Trümmer und Ruinen in unserer Straße erinnern. Sie waren unser Spielplatz.
Wir sprangen von Mauer zu Mauer über die ehemaligen Türöffnungen. Das waren unsere Mutproben. Oft genug schrammten wir uns dabei die Haut von den Knien und Händen, wenn wir zu kurz sprangen und
abrutschten. Und mussten wir mal Pipi, dann hockten wir uns kurz in eine dunkle, feuchte Mauerecke. Abends, in der Dämmerung, machten die Trümmer den meisten Spaß, wenn die langen Schatten so
langsam in die Ecken krochen. Dann wurde es richtig gruselig und unheimlich. Aber bevor es dann wirklich dunkel wurde, riefen unsere Mütter und wir mussten rein.
Auch das war Emmerich.
Es wurde komplett wieder neu aufgebaut, die Stadt wurde eine neue, aber der Strom blieb der alte.
Ich achte ihn, ich habe großen Respekt vor ihm. Er ist lebendig, er hat Persönlichkeit und Charakter, fast möchte ich sagen, er hat Charisma. Er ist schön und majestätisch, gefährlich, wild und
unberechenbar.
Er ist der Rhein, der "Vater Rhein", er sorgt für seine An"rheiner", verschafft ihnen Wohlstand und Ansehen.
Wenn man ihn denn lässt und ihm nicht die Luft abschnürt mit all den Betonkorsetts.
Emmerich ist auf einem guten Weg, es wird sich wieder erholen. Der Anfang ist gemacht.
Und solange wir unseren Rhein haben, wird es auch Emmerich geben.
Vielleicht nie mehr "Embrica decora", aber vielleicht ein sauberes, freundliches Städtchen, in dem man sich sicher und wohl fühlen kann. Wo auch ich wieder gerne leben mag.
Emmerich, besinn dich und sei wieder stark!
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