Mit der MS AMERA durch die Ostsee


Gebucht hatten wir ja schon vor langer Zeit. Die Ostsee mit ihren Anrainerstaaten stand schon lange auf unserer Agenda. Aber ob wir die Reise auch antreten könnten?

Kurz vorher wurde mein lieber Mann krank und musste zur Abklärung seiner Probleme ins Krankenhaus. Ich überlegte, sollte ich trotzdem packen? Oder lieber nicht?

Ich packte die Koffer. Für alle Fälle. Auspacken konnte ich immer noch. Aber ich hoffte. Mein Mann auch. Am Donnerstag sollten die Koffer von Tefra abgeholt und direkt aufs Schiff gebracht werden. Donnerstag sollte, hoffte, konnte mein Mann wahrscheinlich entlassen werden.

Konnte ich es wagen, die Koffer abzugeben?

Ja, sagte mein Mann, tu es. Wir fahren.

Wir hätten bleiben sollen.

Denn, wir hatten die Rechnung ohne unseren bösen, alten Travel-Chaos gemacht. Er wohnt seit Jahrzehnten oben auf dem Dachboden bei unseren Koffern und wartet wie die Spinne im Netz darauf, dass wir sie bewegen. Als die Koffer dann wirklich abgeholt wurden, stand er kichernd in den Startlöchern.

Die Reise konnte beginnen.

Also fuhren wir am Sonntag unseren Koffern hinterher nach Bremerhaven, wo die MS AMERA vor Anker lag. Ein hübsches, kleines, weißes Schiff mit Phoenix-türkisfarbenem Schornstein. Wir waren schon gespannt auf den Neuerwerb, der erst gerade aus der Werft raus und jetzt „on duty“ war.

Eine junge Philippinerin brachte uns zu unserer Kabine 636. Unsere Koffer warteten schon auf uns. Rasch packten wir aus und richteten uns ein. Was wir so sahen, gefiel uns. Gute Betten, begehbarer Kleiderschrank, zwei große Spiegel, Kommode, Sessel, Tisch, Bad, alles gut.

Es war noch Zeit, also machten wir uns auf, das Schiff ein bisschen zu erkunden. Oben auf Deck 11 „Schöne Aussichten“ schien der Ort zu sein, wo bei gutem Wetter die Post abgeht. An dem riesigen Bildschirm leuchtete der Phoenix-Slogan: Willkommen an Bord! Willkommen zuhause!

Wir waren gespannt, wann wir unsere alten Kreuzfahrt Bekannten, die „Nordies“ treffen würden. Sie wollten die Cruise zusammen mit einem befreundeten Ehepaar machen.

Die obligatorische Seenotrettungsübung, die immer gleich zu Beginn stattfinden muss, war diesmal ratz fatz vorbei. Nur Theorie, wir mussten die Westen nicht mal anlegen. OK, dann eben nicht. Dann eben Begrüßungssekt oben auf Deck 11. Hier trafen wir dann auch mitten im Welcome-Trubel den Vierer Clan aus dem Jadebusen.

Wochen vorher hatte ich über eine Facebook Gruppe kurzen Kontakt mit einer Christel. Sie schrieb, sie wird auch auf der Reise sein. Schön, antwortete ich, aber ich werde dich nicht erkennen. Ich erkenne nie jemanden. Wenn du mich siehst, sprich mich einfach an.

Sie sprach mich an. Ich guckte, überlegte blitzschnell, wer ist das? Keine Ahnung. Oder ...

„Christel?“ fragte ich vorsichtig.

„Ja“, sie strahlte mich an: „Ich bin die andere Christel.“

Es dauerte Tage, in denen mein Mann immer wieder mal sagte, „guck mal, deine neue Freundin.“

„Wo?“

Aber irgendwann, ab Mitte der Reise, hatte ich ihr Gesicht auf dem Schirm. Schade, dass es so lange gedauert hat, denn sie ist total nett.

 

1. September 2019, 18 Uhr: Die MS Amera löste sich pünktlich von der Pier und steuerte den Nord-Ostsee-Kanal an. Ach, war das schön, endlich wieder Decksplanken unter den Füßen und Seewind in den Haaren. Durchatmen.

Mein lieber Mann schaute etwas gequält.

Zum ersten Abendessen suchten wir uns im Restaurant „Ozean“ einen Sechsertisch, die Nordies und wir. Wir waren gespannt, eigentlich war das Essen auf den Phoenix-Schiffen immer gut. Wenn nicht sogar sehr gut. Mit einer Ausnahme vor drei Jahren auf der ARTANIA. Diesmal war die Küche unter Leitung von Jörg Schwab ausgezeichnet. Alles sehr, sehr lecker und abwechslungsreich. Neben dem Bedien-Restaurant „Ozean“ gibt es noch die Restaurants „Amera“, das exquisite „Pichler‘s“, das „Lido-Buffet“ Restaurant und den Grill auf „Schöne Aussichten“. Und da das offensichtlich noch nicht reicht, gibt es ab und an landestypische Spezialitäten Buffets. Zusätzlich. Zwischen Mittagessen, Kuchenbuffet und Abendessen. Selbstverständlich kriegen die noch immer nicht gesättigten Passagiere auch noch einen Late-Night-Snack. …

Wer das alles mitgenommen hat Tag für Tag muss wahrscheinlich am Ende der Reise von Bord gerollt werden.

Wir nicht.

In der ersten Nacht durchfuhren wir einen Großteil des Kanals. Aber auch am ersten Tag hatten wir noch Gelegenheit genug, die Passage bei schönem Wetter zu genießen.  

Als wir auf Kiel zusteuerten, wurde ich immer kribbliger. Hier hatten sich meine Eltern damals im Krieg kennen gelernt. Wie oft hat meine Mutter von der Holtenauer Hochbrücke erzählt. Sie war Funkerin in Kiel, mein Vater Funker auf See. Und in Kiel auf der Holtenauer Hochbrücke hat's geschnackelt.

Die Brücke gibt's nicht mehr, längst wurde sie durch eine neue, stählerne ersetzt. Trotzdem fuhren meine Gedanken Karussell, als wir darauf zusteuerten.

Meine liebe „Elfie“-Freundin Christiane stand hier in Kiel-Holtenau an der Schleuse, als wir einliefen. Sie schrieb schon vorher: Ich sehe das Schiff, Schleuse ist noch voll ... Schleuse geht gerade auf, d.h. Schiffe fahren jetzt raus, dann könnnt ihr rein ... wir stehen direkt an der Schleuse, auf der rechten Seite ...…

Ich entdeckte sie, wir winkten stürmisch, dann öffneten sich die Tore und die AMERA fuhr hinaus Richtung Meer.

 

Vormittags, auf dem Weg nach Gotland, bat ich im Büro des Kreuzfahrtdirektors um einen Termin. Ich wollte gerne am einzigen Seetag auf dieser Reise eine Lesung halten aus meinem Buch „Ahoi! El-fie et Scherie-hi“. Ein witziges Buch, in dem die beiden bekannten, schrillen Protagonisten Elfriede und Klaus-Dieter Mullfuß eine Weltreise auf der MS AMADEO machen. Auf dem Flaggschiff der Phoenix-Flotte. Ich hatte den Namen nur etwas verändert. Der Direktor der Gesellschaft hatte mir im Vorfeld geschrieben, ich solle das Buch unbedingt mitnehmen, die Mundpropaganda gehört zum effektivsten Marketing. Ein gutes, amüsantes Buch on top ist zweifelsohne wie eine Königsdisziplin.

Die Sekretärin wollte es weiter geben.

 

Am 3. September erreichten wir die schwedische Insel Gotland. Mit den vier Nordies gingen wir an Land, um das alte Städtchen Visby zu erkunden. Ich liebe diese alten, ursprünglichen Orte, die so ein besonderes Flair haben. Damals zu Hansezeiten muss hier ganz schön Betrieb gewesen sein. Und wie immer wünschte ich mir, die Mauern könnten erzählen, Bilder malen. Aber – wie immer schwiegen sie. Trotzdem spüre ich immer wieder diese prickelnde Faszination, wenn ich die Steine berühre.

Mittags klopfte der Steward an unsere Kabinentüre. Mit Wein und einer Käseplatte.

„No“, sagte mein Mann, „thank you, wir haben nichts bestellt.“

Aber der junge Mann strahlte ihn an und nickte eifrig. Denn er hatte auch noch einen Brief für uns. Es handelte sich um ein Kabinenpräsent für uns beide ganz persönlich von Phoenix Reisen, Michael Schulze. Er wünschte uns eine schöne Reise.

Das war eine Überraschung! So was hatten wir noch nie auf irgendeiner Kreuzfahrt bekommen.

Wir freuten uns sehr und beschlossen, den guten Wein mit nach Hause zu nehmen und dort, vielleicht an unserem Hochzeitstag, zu trinken.

 

Die Probleme meines Mannes ließen nicht nach. Also konsultierten wir Doc Winnie, den wir bisher nur aus der Fernsehserie „Verrückt nach Meer“ kannten. Er ist Orthopäde und Sportarzt. Er gab meinem Mann Spritzen in den Nacken, die nach ein paar Tagen auch etwas, aber nicht viel  Erleichterung brachten.

 

Am nächsten Tag erreichten wir Stockholm, die Hauptstadt Schwedens. Vorbei ging es an etlichen Inselchen durch die Schären, bis wir unmittelbar vor der Stadt anlegten. Die Sonne strahlte zum Willkommen. Mit dem Bus fuhren wir durch die Stadt, die nicht einfach eine Stadt ist, sondern aus 14 Inseln besteht, die durch 53 Brücken miteinander verbunden sind. Außerdem gehört eine große 

Menge Wald zur Stadt. Durch die skandinavische Landhebung kommt immer mehr Land aus dem Wasser hoch, jährlich sind es ein paar Zentimeter. Was vor ein paar Jahrhunderten noch Inseln waren, ist heute Festland. Das erzählte uns unser Guide. Seltsame Vorstellung.

Was wir vom Bus aus sahen, war sauber und freundlich, gar nicht großstädtisch hektisch.

Dann erreichten wir unser Ziel, das ABBA-Museum. Als Fans der Gruppe für uns ein absolutes Muss.

Es ist kein verstaubtes Museum mit Bildern und Trophäen der Gruppe, nein, es ist im Gegenteil sehr lebendig. Wir konnten selber Tonaufnahmen machen, auf der Bühne mit den Vier so echten

Hologrammen Playback singen, im offenen Jeep aus dem Film „Mamma Mia“ sitzen, mit dem Merryl Streep ihre Freundin vom Boot abgeholt hat, oder mit dem selben roten Telefon ... ring, ring ...

Wenn es klingelt, ist einer der ABBAS dran, hieß es. Toll.

Wir hatten Kopfhörer, die wir in jedem Raum einstöpseln konnten, um nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören und zu erfahren. Die ABBAs von klein auf an. Wir sahen riesige Wände mit all den goldenen Platten und, und, und. Es war faszinierend. Wer ABBA mag, sollte es nicht versäumen, das Museum zu besuchen, wenn er mal nach Stockholm kommt. Ich kann es nur empfehlen.

Am 5. Tag legten wir in Helsinki an. Wieder direkt vor der Stadt. Es ist nur ein kurzer Weg von der Pier bis in die City. Also liefen wir zu Sechst los. Kreuz und quer durch die Stadt, bis die Füße qualmten. Wir wären noch gerne bis zur berühmten Felsenkirche gekommen, aber der Weg war zu weit und die Zeit zu knapp. Also beschränkten wir uns auf alles, was wir zu Fuß abgrasen konnten. Helsinki, die weiße Stadt des Nordens, ist auch einen Besuch wert. Eine schöne Stadt. Wenn die Finnen nur eine verständlichere Sprache hätten. Die Dänen und Schweden kann man so ein bisschen verstehen, schriftlich jedenfalls. Aber die Finnen mit ihren tausend Umlauten? Wenigstens haben sie auch den Euro, so dass wir unser Erholungsbier, das wir irgendwann dringend brauchten, mit heimischer Währung bezahlen konnten.

Nach dem Ablegen kreuzte die MS AMERA noch durch die Schären, bevor sie den Bug Richtung Russland drehte. Wir würden am nächsten Tag in St. Petersburg ankommen. Darauf freuten wir uns schon sehr.

 

Vom Kreuzfahrtdirektor Chris Schädel hörte ich nichts.

Aber dann lief er mir über den Weg.

Ich sprach ihn an.

Er konnte sich schwach erinnern. Ja, er hatte Herrn Schulze deswegen angeschrieben, glaubte er, aber ob der geantwortet hatte? Was ich sagte, wischte er beiseite. Was vor zwei Jahren noch auf der MS Albatros ein großer Erfolg gewesen war, zählte nicht mehr. Heute hat Phoenix eine andere Philosophie, sagte er: Die Passagiere sollen weder mit Kochrezepten noch Lesungen oder dergleichen belästigt werden. Aber er würde nachsehen, ob von Herrn Schulze eine Antwort gekommen war. Heute oder morgen würde ich einen Zettel auf die Kabine kriegen.

Ich war einverstanden.

Es kam nichts mehr. Kein Zettel, gar nichts. Niente.

Freitag, am 6.9.19, kam vormittags St. Petersburg in Sicht.

Auf der Newa glitt die MS AMERA unter einer langen Brücke hindurch in die Stadt. Schon von weitem sahen wir goldene Kuppeln in der Sonne leuchten.

Vor mehr als dreihundert Jahren hatte sich Peter der Große hier seinen Traum vom „Fenster zum Westen“ erfüllt, und seitdem ist St. Petersburg der wichtigste Ostseehafen des Landes. Die Stadt hat eine sehr bewegte Vergangenheit, selbst der Name änderte sich je nach der politischen Lage. Mal hieß sie Petrograd, dann Leningrad, dann St. Petersburg. Pracht und Prunk, Elend, Aufstände und Hungersnöte, Brand, Macht und Mord, die Geschichtsbücher sind voll davon.

St. Petersburg sollte man eigentlich mit viel Zeit und einem privaten Visum bereisen und nicht mit dem Schiff, das nur für rund eineinhalb Tage hier vor Anker liegt. Wir Passagiere durften nur in geführten Gruppen vom Schiff. Wir hatten uns für den Winterpalast mit der Eremitage und den Katharinenpalast in Puschkin mit dem berühmten Bernsteinzimmer entschieden.

Mit einem entsprechenden Dokument im Reisepass gingen wir von Bord. Das Terminal war eine schwimmende Bretterbude mit strengen Einreiseschleusen. Wie am Flughafen, nur strenger. Kein Wort, kein Lächeln, unbewegter Blick. Und Stempel. Puh, nix wie raus hier.

Wir hatten einen sehr netten, engagierten Guide, einen jungen Mann, der sehr gut Deutsch spricht.

Er führte uns durch den Winterpalast, durch die Eremitage, dieses Museum, das Katharina die Große mit Kunstwerken aus ganz Europa gefüllt hat. Die ganze Ahnengalerie der russischen Herrscher und ihrer Frauen hängt hier. Und Gold, überall Gold, Prunk und Pracht. Man wird förmlich davon erschlagen. Egal, ob man nach vorne guckt, rundum, auf den Boden oder an die Decke, es ist einfach überwältigend. Allein die „Wartesäle“, die man durch „warten“ musste, bis man endlich zum Thron des Zaren kam – Wahnsinn.

Eine Geschichte: Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wann, fragte ein Besucher, welches der vielen Bilder an den Wänden das kostbarste ist. Die Führerin zeigte auf „Danae“ von Rembrandt Harmensz. van Rijn. Da zog er einen Säurebehälter aus der Tasche und übergoss das Gemälde damit. Ein Teil der „Danae“ löste sich auf, der Rest konnte gerettet werden. Aber das Bild hängt noch immer, beschädigt, als Erinnerung.

Auch eine Mumie ist zu sehen. Ich kann gar nicht alles beschreiben, es war einfach zu viel. Außerdem mussten wir immer mit einem wachsamen Blick auf unsere Gruppe achten. Denn wir waren nicht die einzigen Besucher, die dort unterwegs waren. Wer da seine Leute verliert, hat schlechte Karten. Eben mal außer der Reihe stehen bleiben, um ein besonderes Foto zu machen, ist heikel. Zumal auch die Wächter wie die Habichte aufpassen, dass alles im Fluss bleibt und keiner ausschert. Einmal, als unser Guide auf ein goldgerahmtes Bild der Madonna mit Kind zeigte und mit seinem Zeigefinger ganz oder beinah an den Rahmen kam, schoss eine Wärterin auf ihn zu und beschimpfte ihn laut und böse. Dabei hatte er doch gar nichts getan. Aber sie sind schon sehr auf der Hut, da muss man echt aufpassen.

Nicht viel anders war es in Puschkin im Katharinen Palast. Hier war es noch enger. Täglich 30.000 Besucher. Unsere Gruppe war zeitig an Ort und Stelle, so kamen wir nicht im Pulk, sondern noch ganz gesittet rein. Allein die 300 Meter lange blau-weiße Fassade des Palasts ist schon sehr beeindruckend. Und drinnen: Gold, Gold, Gold, Prunk und Pracht.

Wir waren gespannt auf das berühmte Bernsteinzimmer. Es war ja während der Besetzung zerlegt und nach Deutschland gebracht worden, wo es dann leider verschwand. Anfang des Jahrhunderts musste es mit deutscher Hilfe wieder aufgebaut werden.

Wir durften hier nicht fotografieren.

Irgendwie hatten wir etwas anderes erwartet. Bombastischeres, Spektakuläres, Überwältigendes.

Es war etwas dunkel in dem Raum. Wir mussten genau hinschauen, um vom Gang aus die Mosaike sehen zu können. Aber wenn man erst mal den Blick dafür hatte, konnte man genau die einzelnen hellen, dunkleren, dunklen Bernsteinstücke erkennen, die in allen Größen zu einem riesigen Mosaik die Wände bedecken. Muss eine Wahnsinnsarbeit gewesen sein.

Ebenso schön wie drinnen war es draußen. Die Parkanlagen waren toll angelegt und gepflegt.

Nur unser Guide nervte etwas. Er begann und beendete jeden Satz mit „meine lieben Gäste“. Und um anschließend kurz zur Toilette zu können, wurden wir durch einen Bernstein-Souvenir-Shop geschleust. Mit 30 Minuten Aufenthalt. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt.

Die Rückfahrt im Bus war interessant. Wir fuhren auf einer erhöhten Straße/ Brücke auf die Stadt zu und hatten wunderbare Ausblicke auf die verschiedenen Wasserstraßen, die die Stadt unterteilen.

An Bord auf Deck 11 mixten „Oligarchen“ zum Abschied von Russland „Kaipiroschkas“. Nazdoroje!

Gegen 18 Uhr am 7.9.19 verließen wir Russland mit Kurs auf Estland.

Wir Sechs hatten für den Abend das feine Restaurant „Pichler‘s“ gebucht. Ganz exquisit, ohne Aufpreis das Feinste vom Feinen. Der Pichler hat‘s drauf. Er ist nicht umsonst der Chef de Cuisine sämtlicher Phoenix-Schiffe. Auch, wenn er selber nicht an Bord war. Das Essen war top.

Irgendwann unten auf Deck 5 hielt mich ein fremder Mann an: „Sie sind doch Frau Wismans, oder?“ Ich erschrak und drehte mich zu meinem Mann um. „Wer ist das?“, fragte ich ihn mit Blicken. Er zog die Schultern hoch, keine Ahnung.

„Wann lesen Sie denn aus ihren Elfie-Büchern vor?“

Ach so, auch Facebook. Ich war ja so sicher gewesen, dass ich an Bord lesen würde. Warum war ich nur so voreilig gewesen und hatte darüber geschrieben.

„Tja, keine Ahnung, wird wohl nichts werden. Ich habe gefragt, aber keine Antwort bekommen.“

„Schade, ich hatte mich schon darauf gefreut“, sagte er.

 

Am nächsten Morgen ankerten wir vor Tallinn, der Hauptstadt Estlands. Wir zogen mit den Nordies los. Mit dem Shuttlebus ließen wir uns zum Domberg in der Oberstadt bringen. Ein Teil der alten Befestigungsanlagen ist noch vorhanden. Gesichtslose Steinfiguren in Mönchskutten halten die Wacht vor den alten Mauern und Türmen.Von dort aus kreuzten wir zu Fuß bergabwärts und sahen uns alles an. Auch hier wieder Geschichte pur. Denn auch Tallinn ist eine sehr alte Hansestadt mit bewegter Vergangenheit. Immer wieder wurde sie erobert, verteilt.  Selbst die deutschen Ordensritter waren hier in der Oberstadt zuhause.

Während wir über uraltes Kopfsteinpflaster langsam zur Unterstadt kamen, bezog sich der Himmel immer mehr, und es fing an zu regnen. Die Innenstadt war gesperrt. Marathon. Läufer aus aller Herren Länder trabten die letzten Meter im strömenden Regen ins Ziel. Auch eine Frau, die ein kleines Kind an der Hand führte. Aber doch wohl nicht die ganze Strecke?

Wahnsinn, 42,5 Kilometer waren die alle schon gerannt, während wir uns mit dem Bus bis nach oben hatten bringen lassen und jetzt vor dem bisschen Regen zum Bus flüchteten. Na ja, die waren bestimmt auch viiiiel jünger als wir. :-)

Mir jedenfalls hat Tallinn sehr gefallen, auch eine alte Stadt mit Ausstrahlung. Eine Stadt zum Anfassen.

Neben uns im Hafen lag die „Norwegian Getaway“, eins von diesen großen Schiffen, die wir nie buchen würden. Wolkenkratzer sollen, wenn es denn sein muss, auf dem Boden stehen und nicht auf dem Meer schwimmen.

Abends löste sich die AMERA wieder von der Pier und steuerte Polen an. Wir hatten einen ganzen Tag auf See vor uns. Geburtstag unserer Tochter. Und ich konnte sie nicht anrufen, ihr nicht schreiben, gar nichts. Mein Smartphone war platt. Ich hatte vergessen, einen Auslandstarif hinzu zu buchen. Außerdem hatten wir kein Netz auf See, sonst hätte ich das Handy meines Mannes nehmen können. Nix ging. Ich war sauer. Unsere arme Kleine. Auch, wenn sie jetzt schon 44 ist.

Ich liebe Seetage. Immer schon. Sie sind erholsam und beruhigend. Nachts war es ein bisschen wacklig, aber das stört uns nicht. Wir sind schließlich alte Seebären. (Vom platten Niederrhein).

Nach einer erneuten schlaflosen Nacht beschlossen wir, den gebuchten Ausflug nach Danzig zu canceln. Eine Stunde Busfahrt vom Hafen Gdynia aus, eine kurze Führung, Freizeit und dann, wenn die Füße qualmen und der Rücken jault, nochmals eine Stunde im Bus zurück. Das ging gar nicht. Schon gar nicht mit diesen Problemen der Halswirbelsäule. Also blieben wir schön brav an Bord.

Neben der Anlegestelle türmte sich eine stinkende Kohlenhalde. Nicht gerade einladend. Trotzdem hatten wir kurz überlegt, selber ein wenig die Gegend zu erkunden, Obwohl, da schien nichts Besonderes zu sein. Außerdem hätten wir noch Zloty ziehen müssen, die wir vielleicht/ wahrscheinlich gar nicht brauchen würden. Also ließen wir es bleiben. Ich nutzte die Gelegenheit lieber, um zu waschen. Im Waschsalon stehen gute Waschmaschinen und Trockner. Sie schienen brandneu zu sein. Die Hausfrau in mir nickte beifällig.

Der Küchenchef war an Land gewesen und kam zurück mit allem, was ein deftiges, polnisches Buffet bieten kann. Für draußen war das Wetter nicht gut genug, also wurden all die Köstlichkeiten mittschiffs aufgebaut. Dazu gab es selbst kreierten Wodka in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Wer gut isst, muss auch gut trinken. Wir nahmen eine winzige Kleinigkeit und einen Wodka mit Ingwer. Denn in Kürze war schon Abendessenszeit.

Mittwoch Mittag liefen wir in Warnemünde ein. Das Wetter hieß uns willkommen, im Yachthafen dümpelten weiße Boote, ein Ausflugsdampfer tuckerte vorbei, am Ufer standen viele Leute und winkten uns begeistert zu: Willkommen! Es war ein gutes Gefühl.

Wir hatten eine Rundfahrt gebucht im Bus: Heiligendamm, Bad Doberan und natürlich Rostock. Zu Rostock haben wir beide eine besondere Beziehung durch Walter Kempowski. Wir freuten uns schon sehr.

Aber vorher erst jede Menge Gegend. Das ist ein Grund, warum ich den Norden so liebe. Die Weite, die sich dehnt, so weit das Auge reicht. Einfach grün, einfach Gegend. Die Menschen mag ich auch, ich mag auch die Städte Hamburg und Bremen, aber besonders mag ich das platte, grüne Land.

In Bad Doberan hielten wir – na, wo wohl: am Münster. Ist das toll! Über 800 Jahre alt, von Zisterziensern 1171 als Kloster gegründet. Wir haben schon viele Kirchen, Dome und Kathedralen gesehen. Aber dieses Münster ist besonders. Nicht nur wegen des Gestühls, so ähnlich haben wir das auch hier in Emmerich in der Martinikirche. Aber dieses Kreuz am Kreuzaltar, das je nach Licht dunkel bis türkis leuchtet, das Reiterstandbild, die astronomische Uhr, die verschiedenen Altäre, die Grabmale, die Grabtumba der Königin Margareta von Dänemark und, und, und... Man kann Stunden hier verbringen. Aber soviel Zeit hatten wir natürlich nicht.

Wir fuhren weiter nach Heiligendamm. Da prangte das Grand Hotel. Bekannt und hochmütig. Es sprach laut und deutlich zu uns Touris: Weg, schnell weiter gehen. Ihr gehört nicht hier hin. Dies hier ist für Promis, Politiker, für Leute mit viel Geld. Die Größten der Großen waren hier. Setzt ihr euch lieber in die kleine Molli-Bahn. Und weg von hier.

Na gut, sind wir eben weiter gefahren nach Rostock.

In der Nähe der Marienkirche wurden wir ausgeladen. Die Kirche reizte uns schon sehr. Hier war nach Kriegsende der erste Gottesdienst abgehalten worden. Das wussten wir aus den Filmen von Walter Kempowski, seinen faszinierenden Erinnerungen. Aber die Stadt wollten wir auch sehen. So ganz schrecklich viel Zeit hatten wir ja nicht. Also sind wir durch die Innenstadt geschlendert. Zu gerne wären wir noch bis zum Kempowski Ufer gekommen. Ob das mit der Familie zu tun hatte? Oder war das nur ein Zufall? Wir fragten den Eingeborenen, der uns begleitete, aber das konnte er uns nicht sagen. Das habe ich erst zuhause im Netz nachlesen können. Schade, echt schade. Denn da gibt es noch sein Museum und vieles andere mehr.

In einem kleinen Café haben wir noch schnell einen Kaffee getrunken, und dann wurde es auch schon wieder Zeit für den Bus.

Wir waren zwar schon wieder in Deutschland, aber an der Ostsee. Wir mussten aber zurück nach Bremerhaven. Doch bevor wir Kurs auf den Kanal nahmen, machten wir aber noch einen Abstecher zu der winzigen dänischen Insel Aeroe.  

Bis ran fahren ging nicht, wir mussten tendern.

Dieses urige Städtchen Aerokobing aus vergessenen Zeiten musste ich mir unbedingt ansehen. Also fuhr ich rüber. Mit Dänenkronen in der Tasche, die uns unsere Tochter aus ihrem Fundus mitgegeben hatte. Ich war fest entschlossen, sie auszugeben. Aber ob es hier auch Geschäfte gab? Irgendeine Geldausgabestätte? Ich ließ es darauf ankommen.

Uraltes, holpriges Kopfsteinpflaster, windschiefe, kunterbunte Häuschen. Ich war hin und weg. Stockrosen wuchsen aus dem harten Pflaster. Es überraschte mich, dass hier überhaupt Autos fahren. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber ich sah mindestens drei! Und drei kleine Geschäfte entdeckte ich auch. In einem kaufte ich mir einen dicken, bunten Pullover, irgendwie passend zu dem Örtchen.

Als ich zurück zu Anlegestelle für unsere Tenderboote kam (praktisch um die Ecke rum), lag eine große Fähre vor Anker. Ich staunte. So eine große Fähre für so ein bisschen Land? Ich hatte kaum Menschen gesehen, wo wollten die alle hin, und wo kamen die alle her?

Ich sprang zurück in den Tender. Er lag gut einen halben Meter tiefer als die Anlegestelle. Rein springen mit Hilfe zweier Matrosen ging ja, aber vorher das Aussteigen? Verdammt hoch für alte Knochen.  Aber sie hatten vor dem Landgang ausdrücklich darauf hingewiesen. 

Das war‘s eigentlich. Die Cruise war zu Ende. Mittags verließen wir Aeroe und steuerten den Nord-Ostsee-Kanal an, um am nächsten Morgen um 9 Uhr Bremerhaven zu erreichen.

Aber ach, es gab Stau. Viel Stau. Hohes Verkehrsaufkommen? Kaputte, geschlossene Schleusentore? Der NOK ist eine der am meisten befahrenen künstlichen Wasserstraßen der Welt für Seeschiffe. Aber er müsste dringend mal den Anforderungen angepasst werden. Der Kanal selber ist wunderschön, landschaftlich, aber die Situation der Schleusen ist katastrophal. Nur zwei Tage, nachdem wir endlich den Kanal passieren konnten, wurde der NOK gesperrt für große Schiffe, das Schleusentor in Brunsbüttel ließ sich nicht mehr öffnen. Es mussten Taucher kommen. Muss das sein, frage ich mich?

Durch die riesige Verspätung gab es Stress in letzter Minute bei den Passagieren, die ihre Heimreise nicht mehr wie gebucht/geplant antreten konnten. Auch unsere Zugverbindung mit Platzreservierung war futsch. Aber Phoenix stellte allen anstandslos Ersatztickets aus.

Und so kamen auch wir noch abends am selben Tag nach Hause.

Home, sweet home.


Kommentare: 4
  • #4

    Christiane Stegen-Rosin (Montag, 21 Oktober 2019 13:48)

    Liebe Christel, über den Zufall, dass wir gerade in Kiel waren, habe ich mich gefreut. Es war mir ein Vergnügen euch von der Schleuse aus zuzuwinken und dadurch gleich die Amera in Augenschein nehmen zu können, wenn auch nur äußerlich.
    Für weitere Erklärungen half dann dein Bericht weiter. Die Reise hast du in wunderbarer Erzählweise so gut beschrieben, dass man in Gedanken "mitfahren" konnte. Wir haben diese Reise schon zweimal gemacht und sind immer wieder begeistert. An Vieles erinnerte ich mich wieder, andere Ausflüge waren neu für uns. Vielen Dank für deine Beschreibung und Anregung für vielleicht ein drittes Mal.

  • #3

    Rosa (Mittwoch, 16 Oktober 2019 20:18)

    Liebe Christel,

    das ist wieder einmal ein sehr interessanter Bericht. Habe ihn gestern Abend im Bett gelesen, deswegen erst jetzt - mein Kommentar ;-)))
    Ihr habt wieder viel gesehen und tolle Fotos gemacht. Und vielleicht ist es ja nicht die letzte Schiffsfahrt. Wer weiß, wohin es euch noch verschlägt? Pass gut auf deinen Manfred auf und bleibt beide gesund. Und wir sehen uns ja bald wieder :-)))

    Herzliche Grüße
    Rosa

    PS: Daggi fand Deine Reisegeschichte auch toll und schickt euch liebe Grüße.

  • #2

    Christiane Held (Dienstag, 15 Oktober 2019 12:59)

    Gerne habe ich Deinen Bericht über die Reise auf der Ostsee mit der Amera gelesen und die schönen Fotos angeschaut. Ja die Amera ist z.Zt. unser Traumschiff, wir wollten sie im September mit Freunden besichtigen, um uns einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Leider konnten wir aus familiären Gründen dies nicht machen und hoffen auf eine neue Gelegenheit im nächsten Jahr. Wir haben im vergangenen Nov./Dez. die "alte weiße Lady" auf der ersten Adventsreise kennengelernt und sie hat uns trotz ihres Alters gut gefallen. Aber alle Fotos und Berichte über die "Prinzessin" haben uns neugierig gemacht und jetzt noch der Artikel von Dir, wir müssen es einfach mal schaffen, auf ihr eine Reise zu machen. Herzliche Grüße aus dem Bergischen Land - Deine Bücher haben wir übrigens mit Begeisterun gelesen, besonders mein Mann - und vielleicht mal bis irgendwann auf einem Phoenixschiff. PS. Geht es Deinem Mann inzwischen wieder besser ??

  • #1

    Christel Rieck (Montag, 14 Oktober 2019 10:10)

    Liebe Christel, nun ,,habe ich fertig“.
    Ich bin begeistert und die Fotos, einfach super.
    Ich habe mich im Anfang auch sofort wieder erkannt
    und bedanke mich recht ❤️lich für deine netten Worte.
    Auch ich habe auf deine Lesung gehofft, um einmal
    einmal zu hören, was Elfie so zu Stande bringt.
    Aber nun habe ich sie zu Hause und es ist eine wunderbare
    Bett Lektüre �. Deinen Reisebericht werde ich an meinen Mann
    weitergeben, damit auch er so etwas schönes zu lesen hat.
    Liebe Grüße aus Hamburg �