Das Christkind bohrte missmutig mit dem dicken Zeh Löcher in den flusigen Rand der Wolke.
"Ist das langweilig! Keiner spielt mit mir. Jedes Jahr fangen sie früher an. Es ist doch erst Ende August, und was ist? Onkel Petrus hat beschlossen, dass alle Engel erst Kurse belegen müssen, bevor sie anfangen zu arbeiten. Technik und so. Wie hat er doch gesagt? High-Tech, glaub ich. Für all den modernen Kram, den die Kinder sich heutzutage wünschen. Und wer muss darunter leiden? Ich. Keiner hat mehr Zeit zum Spielen!"
Das Christkind war so sehr in seine traurigen Gedanken versunken, dass es gar nicht bemerkte, wie sich die Wolke, auf der es hockte, langsam auflöste. Flusen um Flusen purzelten durch das blaue Licht, gefroren auf ihrem langen Weg und deckten das Dorf Rauhe am Rande der Heide mit weichem, weißen Schnee zu. Die Menschen dort unten blieben stehen und starrten erschrocken hoch. Überall blauer Sommerhimmel, nur direkt über ihnen herrschte dichtes Schneetreiben. Was mochte das wohl bedeuten?
Das Christkind merkte von alledem nichts. Es zerrte an seinen Flügeln. Sie waren schon wieder zu klein geworden. Sie zwickten und juckten. 'Ich darf nicht vergessen, Onkel Petrus Bescheid zu sagen, dass ich neue brauche. Wenn ich wieder im letzten Augenblick damit komme, kriegt er einen Tobsuchtsanfall.'
Bei dem Gedanken an das vorige Jahr, einen Tag vor Heilig Abend, als der bepackte Schlitten schon abfahrbereit stand, kicherte das Christkind los. Es hatte seine Flügel zwar rechtzeitig zur Überholung in die Werkstatt gebracht, aber erst im letzten Moment anprobiert. Und dann machte es gewaltig: Knack! und die filigranen Flügelchen mit der neuen Goldschicht darauf brachen mitten entzwei.
Onkel Petrus hatte so schrecklich wütend an seinem Bart gezerrt, dass das Christkind einfach lachen musste. Und das hatte ihn natürlich noch wütender gemacht. Aber was sollte es tun? Es konnte nicht aufhören zu lachen, immer lauter und lauter. Das war schon von jeher so, es musste einfach lachen, wenn andere schimpften. Es lachte, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen und Onkel Petrus Mundwinkel schließlich auch anfingen zu zucken.
"Du Göre, du! Na, warte! Jetzt ist natürlich nix mehr mit Fliegen! Jetzt musst du auf dem Schlitten mitfahren. Hol dir warme Wintersachen, und dann ab mit dir. Santa sitzt schon ungeduldig auf dem Kutschbock. Lange wartet der bestimmt nicht mehr."
Und so war das Christkind im vorigen Jahr wie ein ganz gewöhnlicher Arbeitsengel zu den Menschen gekommen, dick vermummt und kaum zu erkennen. Hoffentlich hatten nicht zu viele Kinder durch die Schlüssellöcher geguckt. Sie mussten ja einen völlig falschen Eindruck vom Christkind bekommen haben. Und deshalb musste es unbedingt, am besten noch heute, dem Onkel Petrus Bescheid geben.
Das Christkind zerrte sich die Flügel ab, hüpfte hoch und prallte fast mit einem Test-Engel auf Schlittschuhen zusammen:
"He, pass doch auf, kannst du die Dinger nicht im Stadion ausprobieren? Wieso schwirrst du hier herum?"
"Da sind die Jungs mit den Schlitten und Skiern. Da ist es proppenvoll. Aber - was hast du gemacht? Guck doch mal! Du hast es schneien lassen! Mitten im August! Mann, das gibt Ärger!"
Erschrocken schaute das Christkind nach unten. Tatsächlich, da wirbelten noch die letzten Flocken. Und da, ach, du lieber Himmel! Ein ganzes Dorf war eingeschneit!
Mit roten Ohren rannte es, so schnell es konnte, durch die Wolkengassen, ließ sich nicht mal dazu verleiten, wie sonst eben noch einen Abstecher durch die Bäckerei zu machen, sondern rannte mit klopfendem Herzen durch bis zu dem gewaltigen Himmelstuhl, auf dem Petrus gerade ein Nickerchen machte. Sein langer, weißer Bart hing in einem ordentlichen Zopf über dem Arbeitskittel.
"Onkel!" Das Christkind zog an dem Fuß, der in klobigen Holzpantinen auf dem Boden stand. "Onkel! Wach auf! Ich muss dir was beichten!"
Langsam öffnete Petrus die Augen. "Du? Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"
"Ich habe es schneien lassen. Aus Versehen. - Und, meine Flügel sind schon wieder zu klein."
"Schneien lassen? Im August?"
"Ja, aber nur ein bisschen, nur ein einziges, kleines Dorf ist weiss. Wirklich nur ein ganz klitzekleines."
"Du hattest wahrscheinlich mal wieder Langeweile, so wie ich dich kenne, oder?" Petrus zog das Christkind näher zu sich heran. "Langeweile bekommt dir nicht. Wir werden da mal was unternehmen müssen. Du brauchst eine Arbeit. Es reicht nicht, dass du Weihnachten so ein bisschen über die Erde fliegst und Geschenke austeilst. Ich muss mal überlegen..."
Das Christkind schaute mit bangen Augen.
"Was hältst du davon," Petrus zwinkerte, "was hältst du davon, wenn du ab jetzt in der Bäckerei mitarbeitest? Da ist es immer mollig warm, und du hast keine Zeit mehr für Unfug, denn die anderen Engel werden dir schon auf die Finger gucken. Und wenn du richtig backen gelernt hast, dann..."
Er machte eine Pause und zog das aufgeregt zappelnde Christkind auf seine Knie, "dann, mein Fräulein, wirst du dir selber neue Flügel backen. Vielleicht - aus weißem Marzipanteig? Mit Goldüberzug aus Zuckerguss? Immer für ein Jahr. Immer neue, weil du ja noch wächst. Und hinterher kannst du sie vernaschen. Wenn sie denn noch in Ordnung sind, wenn du Weihnachten von der Erde wieder zurückkommst. Was hältst du von meiner Idee?"
"Juhu, mein liebster Onkel! Du bist doch der beste! Santa hätte mir bestimmt den Hosenboden versohlt.
Ich in der Weihnachtsbäckerei!!!! Juhu!"
Und so kommt es, dass die Engel schon früh im Jahr anfangen müssen zu backen, weil das Christkind am liebsten alles weg nascht, und sie immer wieder von vorne anfangen müssen.
Deshalb sehen die Menschen auf Erden schon früh im Herbst abends den roten Schein aus der himmlischen Backstube.
Copyright: Christel Wismans
Sie war erst knapp drei Jahre alt, ein rundlicher Feger mit einem feuerroten Lockenkopf. Ihre Welt war bunt und phantastisch. Sie liebte Bilderbücher und die Geschichten, die Mama oder Papa ihr vorlasen. Besonders fasziniert aber war sie von den Weihnachtsgeschichten. Vom Christkind, dem Nikolaus und dem Weihnachtsmann, von Santa Klaus und den Rentieren am Nordpol. Sie stellte sich den riesigen Schlitten vor, beladen mit Geschenken für alle Kinder der Welt, die Engel im Himmel, die monatelang dort oben basteln, backen, hämmern und schneidern und für den Weihnachtsmann alles vorbereiten. Und der packt dann alles auf seinen Schlitten - auf einen einzelnen Schlitten?
Alles? Und wie kommt der dann vom Himmel herunter zum Nordpol?
Den Nordpol hatte sie sich auf dem leuchtenden, bunten Globus von ihrem Bruder zeigen lassen. Aber der Himmel? Der Himmel war ein Rätsel. Oft stand sie draußen und starrte in die Unendlichkeit der Bläue. Dort oben konnte sie die Flugzeuge sehen, die winzig klein ihre Bahn zogen. Aber die flogen doch nicht durch den Weihnachtshimmel, oder? Die würden doch alles kaputt machen.
Fragen über Fragen.
Und wie kommt der Weihnachtsmann vom Himmel zum Nordpol?
Das Christkind, also, das war ja klar, kommt auf einem der wenigen Wintersonnenstrahlen runter auf die Erde. Das brauchte ja auch keine Geschenke zu schleppen. Aber das Ding mit dem Schlitten voller Geschenke aus dem Himmel für alle Kinder auf der Welt?
Sie zerbrach sich den Kopf und löcherte die Großen. Aber sie kriegte einfach keine gescheite Antwort von ihnen. Die taten so, als wäre das normal, mit einem Riesenschlitten vom Himmel auf die Erde runter zu plumpsen.
Oder bleibt der Schlitten vielleicht auf dem Nordpol stehen und die Geschenke werden mit einem Seil vom Himmel herunter gelassen? Und die Rentiere? Haben die einen Stall? Und zu fressen? Frieren die nicht?
Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie wollte es wissen. Und zwar genau.
Mitte Oktober war es soweit. Der Nachmittagshimmel färbte sich blutrot, soweit sie gucken konnte. „Backen die Engelchen jetzt schon für Weihnachten? Geht es jetzt los?“
Die Geschwister nickten übereinstimmend, was selten vorkam, grinsten sich an und sagten: „ja, ja, geht bald los, wird Zeit, unseren Wunschzettel zu schreiben.“
Als die Geschwister abends in der Badewanne Mama mit ihren Überschwemmungen auf Trab hielten, und die nicht auf sie achten konnte, schnappte sie sich heimlich ihren Teddyrucksack.
Hm, was wird sie brauchen? Die Siggflasche mit Apfelschorle. Was zu essen. Ihr Kuschelkissen natürlich und, ganz wichtig, den Schnulli. Einen Apfel, -hm was packt Mama immer in den Rucksack für den Kindergarten??? Eine frische Windel? Quatsch. Nee. Bin doch schon groß.
Auf dem Weg nach draußen sah sie aus dem Augenwinkel das nur halbaufgegessene Brot ihrer Schwester auf dem Brettchen in der Küche liegen. Das könnte auch nützlich sein. Sie stopfte es in den Rucksack und zog die schwere Haustüre auf.
Huuuuh! War das kalt draußen! Sie hatte nicht überlegt, dass es jetzt abends schon früher dunkel wird und auch kalt ist. Sie hätte sich ihren dicken Anorak anziehen sollen und vielleicht auch den Schal, den Mama ihr gestrickt hat. Aber sie hatte nicht daran gedacht. Und jetzt war die Haustüre zu. Sie könnte natürlich schellen. Mama käme und würde die Türe öffnen. Große Augen machen, vielleicht schimpfen. Bestimmt sogar: was machst du denn für Sachen? Wo warst du? Wo willst du hin?- Und sie dann ganz dolle in den Arm nehmen und schnell ins warme Haus ziehen.
Und sie ins Bett bringen. Und vorlesen. Und kuscheln.
Sie zögerte kurz. Die Vorstellung war verlockend, aber – nein.
Dann wüsste sie immer noch nicht, wie das da oben mit Weihnachten und so funktioniert. Nein. So nicht. Sie war fest entschlossen, der Sache ein für allemal auf den Grund gehen.
Entschlossen, mit energisch vorgeschobenem Kinn und weit ausholenden Schritten, entfernte sie sich von zuhause und marschierte zügig über den Gehsteig neben der großen Straße dem Abendrot entgegen. Autos fuhren vorbei, eilige Menschen hasteten, es brauste, hupte und klingelte. Niemand sprach sie an, niemand wunderte sich.
Immer weiter ging das Kind, über Wege, Felder und sogar über einen abgeernteten Acker, den Blick immer fest auf den glutroten Himmel gerichtet. Doch langsam versank die Sonne, die Engelchen schlossen ihre himmlische Bäckerei, und Dämmerung malte mit langen Fingern schwarze Schatten auf das Land.
Das Kind zögerte. Es hatte zwar keine Angst vor Dunkelheit, aber das hier war - anders. Es war schon ziemlich unheimlich.
Das kleine Mädchen zog fröstelnd die Schultern hoch und tastete unter der Jacke nach der Schnullerkette. Und just in diesem Moment geschah es:
Ein Lichtstrahl durchbrach den dunklen Abendhimmel. Er verstreute Millionen und Abermillionen goldene Funken wie eine riesige Wunderkerze am Weihnachtsbaum, er hüpfte und tanzte und schien direkt auf das Kind zuzusteuern. Vergessen baumelte die Schnullerkette. Das Kind stand und starrte mit weit offenen Augen. Das Herz flog ihm fast aus der Brust, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken. War das etwa ...? Konnte das vielleicht...?
„Wer bist du?" Mit angehaltenem Atem, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen, starrte es das Wesen an, das gerade leichtfüßig von dem Lichtstrahl herunterrutschte.
„Na, ich bin’s doch, das Christkind! Du bist doch auf der Suche nach mir, hab ich gehört. Onkel Petrus hat mich aus der Bäckerei geholt- ich muss nämlich arbeiten, weißt du?- und dann hat er zu mir gesagt, los, beeil dich, nimm dir den Express und pass auf das kleine Mädchen auf, das da mutterseelen alleine im Dunkeln unterwegs ist zu dir.“
Das Christkind schüttelte das Kind leicht: „Weißt du denn nicht, dass du nicht weglaufen darfst? Noch dazu im Dunkeln! Hat dir niemand beigebracht, dass es auch ganz viele schlechte Menschen gibt, die Kindern Böses antun? Dass kleine Kinder deshalb auch immer bei den Eltern bleiben müssen? Also, wirklich- Sachen machst du! Und dazu bist du noch so ein Winzling! Wie kannst du nur auf solche Ideen kommen, hm?
Aber sag mal, warst du wirklich auf dem Weg zum Himmel? Hast du mich gesucht? Warum denn? Ich komme doch erst in etlichen Wochen zu den Menschenkindern auf die Erde. Wenn Weihnachten ist, und die lieben Kinder – es gibt nämlich auch andere, weißt du? - also, wenn die guten Kinder beschenkt werden.“
Kopfschüttelnd betrachtete das Christkind das kleine Mädchen in seinem Sommer- Anorak. „Und was mach ich jetzt mit dir? Na los, nun sag doch mal was.“
„Ich – ich will, also: bitte, genau wissen, wie das geht. Mit dem Schlitten und Himmel und den Engeln und, und Nordpol und Geschenken und - und Rentieren und - alles. - Ja.“ Das Kind schluckte einmal kräftig und nickte dann ein paar Mal: „Ja.“
Das Christkind kicherte entzückt: „Du bist mir ja eine Süße! – Weißt du was, ich zeige dir den Himmel und alles, was du sehen willst. Komm, ich nehme dich auf meinen Rücken. Halt dich gut fest. Am besten an meinen Flügeln. Und dann, ab die Post! Wenn ich auf den Lichtexpress springe, musst du dich einen Augenblick ganz dolle festhalten. Ich bin nämlich auch schon ein paar Mal daneben gehüpft, hi, hi, hi! Onkel Petrus sagt immer, ich bin einfach zu übermütig. Ich werde wohl nie erwachsen. Da hat er natürlich Recht. Aber ich will auch gar nicht erwachsen werden. Ich bin ein Kind. So wie du. Allerdings viel, viel älter.- So, also: alles klar? Pass auf deinen Rucksack auf!
Und – huiiiiii!“
Mit einem lauten Schrei schoss das Christkind mit seinem irdischen Päckchen auf dem Rücken auf dem Lichtstrahl immer höher und höher bis in die schwarzen Tiefen des Himmels.
Das Kind hatte keinerlei Angst. Es fühlte sich unsagbar glücklich und stieß einen triumphierenden Jubelruf aus, der sich an den eisigen Rändern der blauen Himmelkanten brach.
„Pass auf! Gleich fliegen wir unter der Himmelsleiter drunter weg. Zieh deinen Kopf ein und bleibe flach auf meinem Rücken liegen. Die Leiter ist bestimmt schon vereist. Die wird erst aufgetaut, wenn Nikolaus und der Weihnachtsmann sich mit ihren Paketen auf den Weg machen müssen.“
„Gleich sind wir da! Sieh mal, da hinten wird es schon heller!“
Kaum gesagt, bremste der Lichtstrahl, und das Christkind ließ sich seitwärts runter fallen. Das kleine Kind purzelte von seinem Rücken und versank fast in den nassen Tiefen einer dunklen Wolke.
„He, was soll das? Lass mich in Ruhe! Ich habe heute frei. Ich muss erst morgen wieder arbeiten.“
„Sei friedlich, du alter Brummbär! Das ist ein Erdenkind, das hat doch keine Ahnung!“
Das Christkind pulte das Kind aus der wabernden Nässe! „Nee, nee, stell dir das mal vor, wenn der Dienst gehabt hätte! Du wärest glatt mit ausgeschüttet worden! Ich muss viel besser auf dich aufpassen.“
Das Christkind schüttelte das nasse Mädchen, dass die roten Haare flogen. „Du bist ja pitschenass geworden. Komm, wir suchen den Schirokko, der müsste jetzt eigentlich zuhause sein.“ Auf den verständnislosen Blick des Kindes hin fügte es hinzu: „Eigentlich ist er ein Wind, ein ganz heißer, heftiger. Aber für uns hier oben ist er einfach unser Fön. Der bläst so stark, der kriegt unsere schlimmsten Engelshaare ratzfatz trocken. Aber nicht Onkel Petrus sagen. Der meint immer, - ach, der hat ja keine Ahnung. Der gibt nichts um Haare und Frisuren. Außerdem“, das Christkind beugte sich zu dem Kind herab und flüsterte laut kichernd:, „also, wenn du mich fragst, der wird auch langsam alt und merkwürdig. Aber pst! nicht weitersagen, hörst du? So, und jetzt ab zum Schirokko.“
Bereits nach wenigen Minuten stand das Kind frisch getrocknet und gekämmt wieder vor dem Christkind: „Fertig. Zeigst du mir jetzt den Weihnachtshimmel und alles?“
Das Christkind zog die Nase kraus. „Hm, tja, eigentlich hab ich überhaupt keine Zeit. Ich sollte dich nur sicher nach Hause bringen und so. Ich hab noch Seminar gleich: Hightech Spielzeug. Hab ich total vergessen. Phh, da hab ich überhaupt keine Lust zu. Können sich die Kinder nicht wie früher Puppen und Eisenbahnen und Malbücher oder Stofftiere wünschen? Nein. So ‘n kompliziertes, technisches Zeugs muss es sein. Ich versteh da überhaupt nichts von, und dabei muss ich mir auch noch all die blöden Namen merken. Ich find das so doof. Ich bin viel lieber in der Weihnachtsbäckerei. Im Moment sind Spekulatius dran. Ich darf ja nur die einfachen Sachen. Aber ich habe einen guten Draht zu den Backengeln. Hast du Lust? Willst du mal hin? Ich schwänze einfach das blöde Seminar. Soll der Weihnachtsmann sich mit seinen Leuten das Zeugs angucken. Was meinst du? Wollen wir? – Oder – eigentlich müsste ich ja wenigstens eben Bescheid sagen - hm. Sag, willst du vielleicht den heiligen, alten Mann kennen lernen? Da könnte ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Ich meine, ich kann ihn eigentlich ganz gut um den Finger wickeln, aber wenn es um meine Pflichten geht, ist er meistens eisern. Allerdings- wenn ich dich mitnehme? – Hm?“
„Meinst du etwa," das Mädchen stockte, und seine Augen wurden wieder tellergroß, „meinst du etwa den lieben Gott?“ Vor Aufregung bekam es einen Schluckauf, und es nestelte wieder an der langen Schnullerkette.
„Nee!“ Das Christkind schüttete sich fast aus vor Lachen. „Nee, der wohnt noch eine ganze Etage über uns. Ich meine natürlich den Onkel Petrus, der hier im Weihnachtshimmel der Chef ist.“
„Noch höher?“ Wie durch Zauberei fand der Schnuller seinen Weg in den Mund des Kindes. „Aber wir sind doch schon so hoch. Wie hoch ist der Himmel denn? Mein Papa fliegt ganz hoch im Himmel. Aber er hat noch nie den Weihnachtshimmel gesehen. Und auch noch nie den Himmel, wo die Oma jetzt ist. - Und noch nie den Himmel mit dem lieben Gott. - Wie hoch geht der Himmel denn? Sind wir in einem anderen Himmel? Auf dem Globus ist nur ein Himmel. - Gibt es hier oben vielleicht so viele Himmel wie viele Länder auf der Erde?“
„Nee“, sagte das Christkind und blinzelte angestrengt, „das ist alles eins, glaub ich jedenfalls. Aber sehr vielfältig halt. Oben und unten und seitlich und überall eigentlich. Komisch, da hab ich noch nie drüber nachgedacht. Was du schon so alles weißt und wissen willst? – Also: Weihnachtsbäckerei oder Onkel Petrus? - Ach, verflixt, “ das Christkind schlug sich vor die Stirn, „ich muss ja heute auch noch zum Eisstadion. Hätte ich beinahe total vergessen. Ich muss ja noch die neuen Schlitten und Ski begutachten und den ganzen anderen Winterkram. Oh Mann, das wird eng, puh!“
„Ich würde schrecklich gerne die Bäckerei sehen. Ich kenne nur den roten Himmel, wenn die Engelchen backen. Gehen wir dahin? Bitte!?“
„OK. Wir sollten aber dann doch besser einen großen Bogen um den Onkel Petrus schlagen. Wenn der mich erwischt mit dir, ...du weißt ja, das doofe Seminar und alles.“
Das Kind hopste, so hoch es konnte, auf den Rücken des Christkinds: „fliegen wir?“
„Nee, wir nehmen den Transporter. Halt dich an den Flügeln fest. – Alles klar?“ Das Christkind schwang einen kleinen, goldenen Stab, und augenblicklich schwebte vor ihnen, begleitet vom Klang heller Glöckchen, ein Teppich herbei. Das Christkind lachte, hüpfte auf die Fransen und warf sich bäuchlings auf die bunte Oberfläche. „Halt dich fest, Süße!“
Aber die Süße war nicht schnell genug. Sie verhedderte sich in den Fransen, rutschte von den Flügeln ab und stürzte. Tiefer und immer tiefer stürzte sie durch den langsam schwärzer werdenden Himmel. Bis eine alte, schwarzgraue Wolke ihren Sturz bremste. Ringsum war es düster und nasskalt. Das Kind klammerte sich mit ganzer Kraft an die ausgefransten, kristallenen Ränder. Bloß nicht runterfallen! Doch die Wolke dräute und bäumte sich auf. „Hau ab, du. Verschwinde!“
Das Kind konnte sich kaum halten. Der Rucksack auf dem Rücken schwang wild hin und her. Seine Hände erstarrten vor Kälte und hatten kaum noch die Kraft, sich an den eisigen Rändern der schaukelnden, schüttelnden Wolke festzuhalten. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen und verwandelten sich augenblicklich in kleine, pieksende Eiskristalle. Bei dem Versuch, sie mit dem Ärmel abzuwischen, schob sich die Schnullerkette über den Kopf und rutschte ganz langsam, wie in Zeitlupe, über den Rand der Wolke und versank im Dunkel. Jetzt war alles aus.
„Christkind! Hilfe! So hilf mir doch! Ich kann nicht mehr! Mama!“
Das verzweifelte Weinen zeigte dem Christkind den Weg.
„Engelchen, halt aus, ich komme! Bin gleich bei dir! Ich habe dich schon überall gesucht! Mein Gott, ist das aufregend mit dir!“
Ein zarter Kinderarm wühlte sich mit der Kraft eines starken Mannes durch die tiefen, nassen Schichten, bekam das Kind am Kragen zu packen und zog es ächzend hoch. „Komm schnell her.“
Das Christkind breitete die Arme aus und schmiegte das vor Kälte klappernde Kind ganz fest an seine Brust. Augenblicklich schoss goldene Wärme durch den Körper des Kindes und selbst seine Haare schienen in der Hitze wie rotgoldene Flämmchen zu züngeln.
„Jetzt geht’s wieder, hm?“ Das Christkind schob die Kleine etwas von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können, „diesmal binde ich dich fest. Zweimal hast du Glück gehabt, aber wir sollten es nicht überstrapazieren.“ Wie einen Rucksack schnürte sich das Christkind geschwind den kleinen Körper auf den Rücken und setzte sich dann behutsam mitten auf den Teppich.
„Da sind wir wieder.“ Das Christkind band die Kleine los und stellte sie lachend auf die Füße. „Du denkst bestimmt, wir haben hier überall Löcher im Boden, weil du immer so tief runter fällst. Aber das ist nicht so. Eigentlich haben wir überhaupt keinen Boden, keinen richtigen jedenfalls, so wie du ihn von zuhause kennst. Wir sind nämlich aus Licht, weißt du? Wir haben kein Gewicht, wir berühren den Boden kaum. – Was ist?“
Das Mädchen hörte offensichtlich nicht mehr zu, sondern schaute sehnsüchtig auf den glutroten Schein aus der Backstube. Es hatte Hunger. Die Feuer schwelten noch, und es duftete intensiv nach Spekulatius. „Christkind! Bitte lass uns zu den Bäckereien gehen. Ich hab solchen Hunger.“
„Klar. Los, schwing dich wieder auf meinen Rücken, aber bitte halt dich diesmal besser fest. Ich will dich nicht schon wieder ausgraben müssen!“
„Halt! Stopp!“ Wie aus dem Nichts dröhnte eine donnernde Stimme unmittelbar vor ihnen. Das Christkind bremste so heftig, dass das Kind schon wieder in Gefahr geriet, abzustürzen.
„Onkel! Menno, du hast uns vielleicht erschreckt.“
Fasziniert und ohne jede Angst starrte die Kleine den alten Mann an. „Petrus.“
Genau so hatte sie ihn sich vorgestellt: groß, alt, mit langem, weißen Bart und lieben Augen unter dicken Augenbrauen. Zutraulich ging sie auf ihn zu und streckte ihre kleine Hand aus.
Petrus bückte sich und hob die kleine Person hoch auf seine Arme: „Wer bist du denn? Ein kleines Erdenkind hier oben bei uns im Weihnachtshimmel!“ Er drückte ihre feuerroten Locken fest an seine Brust, während er sich erneut dem Christkind zuwandte:
„Wie konntest du? Hattest du nicht den Auftrag, das Kind nach Hause zu geleiten und sonst weiter nichts? Wann wirst du endlich erwachsen, hm?“
Eine Handvoll Kind schmiegte sich wohlig an Petrus. An seiner warmen Brust wäre es fast eingeschlafen. Aber die Aussicht auf die Weihnachtsbäckerei und vielleicht Antworten auf all seine Fragen ließ es wieder quicklebendig werden.
„Ach, Petrus, bitte - bitte, lass mich doch mit dem Christkind in die Bäckerei gehen. Und vielleicht noch ins Eisstadion oder vielleicht in die Spielzeugwerkstatt, oder vielleicht auch noch...“
„Halt, stopp. Bäckerei ja. Aber mehr nicht.“ Und als Petrus die enttäuschten Kinderaugen sah, warf er dem Christkind einen bitterbösen Blick zu: deine Schuld.
„Du bist ein kleines Erdenkind, und du kannst nicht bei uns im unendlichen Himmel leben und dir alles ansehen. Du kannst das alles hier nicht verstehen. Und du sollst es auch nicht.
Pass auf, du darfst mit dem Christkind in die Bäckerei, da kannst du dich ein bisschen aufwärmen und naschen, so viel du willst. Aber vorher muss ich noch mal eben kurz mit dem Christkind sprechen. Setz dich hier hin. Wir kommen gleich wieder.“ Er packte die Kleine in eine rosige Bäckereiwolke, in der es wunderbar duftete, und deckte sie bis zum Hals zu. „Bis gleich!“
Müdigkeit kroch zusammen mit der Wärme an dem Kind hoch. „Mein Schnulli! Wo ist mein Schnulli!“
Hektisch wühlte die Kleine nach der langen Schnullerkette unter dem dünnen Anorak. Aber die Kette war weg. Der Schnulli war weg. „Wo ist mein Schnulli? Ich will meinen Schnulli!“
Schluchzend suchte sie den Boden ab. Aber der Schnuller blieb verschwunden. Dann fiel es ihr wieder ein und ihr Schluchzen wurde immer hektischer, verzweifelter, lauter: „mein Schnulli! Mein Kissen!"
Sie riss sich den Teddyrucksack vom Rücken und kippte ihn aus. Das Kissen! Sie brauchte ihr Kissen. Da! Mit einem kleinen Schrei zog sie das rosa karierte Kissen heraus und presste ihr Gesicht hinein. Augenblicklich ging es ihr besser. Es roch so gut, so warm und vertraut, ein bisschen nach Apfelsine und Nutella, nach ihrem Bett, nach ihr selber und - Mama. Es roch nach Mama. "Mama!" Dann war es aus. "Mama! - Ich will meine Mama! - Mama!"
Das Kissen fest an ihr Gesicht gepresst, wiegte sie sich vor uns zurück. Verzweiflung kroch ihr über den Rücken wie eine eisige Gänsehaut. Kleine Schluchzer unterbrachen ihren Schluckauf. Ihr Kopf sank immer tiefer, und dann war sie vor Erschöpfung eingeschlafen.
So fanden sie Petrus und das Christkind.
„He, Süße, aufwachen! Komm schon, wir wollen doch in die Bäckerei. Ich backe dir einen neuen Schnulli. Und eine neue, wunderschöne Kette, die du sogar aufessen kannst, wenn du willst, und..."
„Hör auf. Lass die Kleine schlafen." Petrus schob ihre Hand beiseite. „Siehst du nicht, dass sie fix und fertig ist? Sie hat soviel erlebt. Sie muss jetzt unbedingt nur noch nach Hause zu ihrer Mama und in ihr Bett."
„Och", maulte das Christkind, „wann hab ich schon mal ein anderes Kind hier oben zum Spielen? Und jetzt soll ich es schon wieder auf die Erde bringen? Das finde ich unfair. Kann sie nicht...?"
„Nein. Sie muss sofort gehen. Back rasch einen neuen Schnuller mit Kette und dann ab. - Und! lass sie nicht wieder fallen unterwegs, hörst du?"
Er streichelte dem schlafenden Kind sacht über die Locken, die ihn irgendwie zu faszinieren schienen, brummte leise: behüt dich Gott, und stapfte davon.
++++++++++
Fahle Morgendämmerung schlich sich lautlos durch die halb offenen Jalousien und tauchte das Kinderzimmer in diffuses Licht.
Sophie öffnete die Augen. Ganz langsam und vorsichtig. Sah sich um. Atemlos fast.
Und?
Ihr Zimmer. Ihr Bett. Ihr Teddy. Zuhause.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. War das alles etwa ein Traum gewesen? Sie dachte zurück, holte sich Erinnerungen aus der Nacht. Nein, kein Traum. Oder doch?
Sophie kroch tiefer unter die Bettdecke, schnuffelte an ihrem Kissen, tastete nach dem Schnulli und schob ihn sich, als sie ihn gefunden hatte, genüsslich in den Mund.
Doch dann flog sie hoch, riss die Augen ganz auf, den Schnuller aus dem Mund und lachte laut und triumphierend:
Ich hab es doch gewusst!
Copyright: Christel Wismans
Zeichnung: Renate Anna Becker
In einem fernen Land, versteckt zwischen hohen Bergen und tiefen Seen, regierte ein alter König sein kleines Reich. Nur mühsam schaffte er es morgens noch, sich aus seinem Bett zu erheben und den Tag zu überstehen. Denn er war müde. Sehr müde.
Seine Untertanen liebten ihn, er war immer ein guter Herrscher gewesen, gerecht und freundlich zu jedem. Sie wünschten ihm einen ruhigen Lebensabend mit seinem geliebten Garten, den er selber angelegt, gehegt und gepflegt hatte in der wenigen Zeit, die ihm als König und oberster Richter im Land blieb.
Aber wer sollte nach ihm das Reich regieren? Der König hatte keinen Sohn, der ihm auf den Thron folgen konnte, und auch sonst gab es niemanden.
Nur die kleine Prinzessin Lulu. Aber Lulu war nie gewachsen, sie war klein wie ein Kind geblieben. Auch, wenn sie schon fast zwanzig Lenze zählte.
Kurz vor ihrer Geburt war das Unglück über die Königsfamilie herein gebrochen. Ein großer, pechschwarzer Rabe war durch das offene Fenster geflogen, hatte sich auf den Bauch der Königin gehockt und sie mit glühenden Augen angesehen.
„Kennst du mich noch?“, hatte er gekrächzt, „du hast mich voriges Jahr verjagt, aus dem Reich getrieben, nur weil ich die kleine Meise getötet habe. Aber ich bin zurück gekommen und jetzt...“
In diesem Moment, gerade, als der Rabe seine Verwünschung ausstoßen wollte, war eine lichtblaue Libelle durchs Fenster auf ihn zu geschossen und hatte angefangen zu singen. Sie hatte ihn umschwirrt und verwirrt, ihn betäubt mit schweren Düften und hypnotischem Sirenengesang, bis er die Augen verdreht hatte und leblos zu Boden gefallen war.
Sofort hatte sie einen durchdringenden Pfiff ausgestoßen, und Hunderte von Libellen, Schmetterlingen und Singvögeln waren durch das Fenster geströmt und hatten die junge Königin, die vor Angst in Ohnmacht gefallen war, mit ihren zarten Flügeln gestreichelt, bis sie die Augen wieder aufgeschlagen hatte. Aber sie konnte sich nie mehr von ihrem Lager erheben und lag Jahr um Jahr wie erstarrt.
Bald darauf wurde das Kind geboren. Ein winziges, wunderschönes Baby.
Es hatte die lichtblauen Augen der Libelle, aber die nachtschwarzen Haaren des Raben. Seine Stimme zwitscherte wie die Vögel im Garten, und nach nur kurzer Zeit zeigte sich, dass der Kleinen noch eine ganz besondere Gabe geschenkt worden war: sie verstand nicht nur die Sprache der Menschen, sondern auch die der Vögel, der Tiere, der Blumen und sogar die des Windes. Sie alle wurden ihre Spielkameraden. Sie spielte mit ihnen Verstecken, sang mit den Vögeln um die Wette und ließ sich von den Blumen Geschichten erzählen. Und wenn sie müde wurde, legte sie sich im Schatten der alten Bäume ins Gras und hörte dem leisen Wispern des Windes zu.
So vergingen die Jahre.
Lulu war ein glückliches Kind und die Freude ihres Vaters. Wann immer er sie anschaute, ging ihm das Herz über vor Liebe. Sie war so wunderschön. Aber er sorgte sich auch.
Denn sie wurde nicht größer. Sie blieb winzig klein. Das Einzige an ihr, was wuchs, waren ihre schwarzen Haare. Sie kringelten sich in dichten Locken um ihr Gesichtchen und fielen dann herab bis zum Boden.
Als Lulu alt genug war, berief die inzwischen uralte, lichtblaue Libelle im Garten eine Versammlung ein. Alle Vögel und Tiere kamen, und die Pflanzen neigten ihre Köpfe, damit ihnen auch ja kein Wort entgehen konnte. Behutsam schlossen sie einen Kreis um Lulu, die wie eine kleine Blume auf einem Seerosenblatt mitten im Teich hockte.
Die Libelle fing an zu erzählen.
So erfuhr Lulu von dem schrecklichen Ereignis damals kurz vor ihrer Geburt.
„Ich kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass der böse Rabe den Fluch aussprechen konnte, aber ganz abwenden konnte ich ihn nicht mehr. Er war schon zu fest in seinem Willen. Und seitdem liegt deine Mama da wie tot, und du kannst nicht wachsen.“
Mit großen Augen hörte Lulu zu. So also war das. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum sie so klein war, und warum sie sich mit allen Lebewesen im Garten unterhalten konnte. Und warum ihre Mama nicht richtig lebte. Der Papa schüttelte immer nur verzweifelt den Kopf, wenn sie fragte. Er wusste es nicht. Er hatte keinerlei Ahnung, denn er war ja nicht dabei gewesen, und die Libelle konnte es ihm nicht erzählen, weil er ihre Sprache nicht verstand.
„Eine Möglichkeit gibt es, allerdings nur eine einzige.“ Die alte Libelle seufzte tief, und die umstehenden Vögel nickten trübselig mit dem Kopf.
„Nur der Kuss eines Königskinds, das völlig rein ist im Herzen, kann den Fluch lösen.“
Lulu zwinkerte. „Aber, könnte denn nicht ich selber..., oder bin ich nicht rein genug...?“
Die Vögel lachten: „Nicht rein genug? Du? Kindchen, wenn es nur so einfach wäre!“
„Nein“, sagte die alte Libelle, „nein, das ist es nicht. Dann hätten wir es dir gleich gesagt, und alles wäre längst wieder gut. Nein. Du bist ja selber Teil des Fluchs. Du kannst ihn nicht lösen. Aber ein Kind von dir könnte es. Ein Königskind, rein im Herzen, so wie du.“ Die Libelle seufzte wieder.
„Aber wo sollen wir den Königssohn her nehmen, der dich heiraten könnte? Wir leben hier versteckt zwischen den hohen Bergen, kaum jemand auf der Welt kennt unser kleines Königreich. Und dazu bist du so winzig. Jeder außer uns muss dich für ein Kleinkind halten...“ Die Libelle ließ den Kopf hängen, und alle Vögel taten es ihr nach. Es war aussichtslos.
Plötzlich erhob sich der Wind, der bisher geschwiegen hatte.
„Ich werde suchen. Ich kenne die Welt bis in den kleinsten Winkel, ich kenne jeden Berg und jedes Tal. Ich kenne alle tiefen Seen und Ozeane. Ich bin überall zuhause. Weine nicht, kleine Lulu, ich finde und bringe dir einen Königssohn, der deiner wert ist, der dich liebt und heiratet. Und übers Jahr werdet ihr, deine Mama und du, befreit sein von dem Fluch, und ihr könnt glücklich leben bis ans Ende eurer Tage.“
Er erhob sich in die Lüfte, schlug zum Abschied noch einmal einen Purzelbaum, dass die Blätter der Bäume rauschten und die Blumen erzitterten, und dann war er weg. Der Himmel erstrahlte wieder in hellem Blau, und die Sonne schien zu zwinkern.
Lulu und ihre Freunde im Garten sahen sich wie erwachend an. Der Wind! Natürlich! Er war frei. Er konnte ihnen helfen. Dass sie daran nicht gedacht hatten! Sie fassten sich bei den Händen und tanzten glücklich lachend um Lulu herum.
Jeden Tag hielten sie Ausschau und warteten.
Die Eule hatte ihr Quartier hoch oben in die Zinnen des Schlosses verlegt. Von dort aus konnte sie die ganze Nacht das Tal beobachten und Wache halten.
Die alte Kastanie wuchs noch ein Stück in die Höhe, sodass sie weit übers Tor hinaus ins Tal schauen konnte.
Die Schwalben flogen weit über die Berge nach Süden, die Wildgänse nach Norden. Die Frösche übten einen Hochzeits-Chor ein, und die Spinnen webten schon fleißig an einem Hochzeitskleid.
Lulu selber lag stundenlang auf ihrem Seerosenblatt, ihrem Lieblingsort im Garten, und träumte. Wie mochte der Prinz aussehen? Wann würde er kommen? Würde er sich nicht daran stoßen, dass sie so winzig war?
Immer wieder schaute sie sehnsüchtig hinauf in den wolkenlosen, blauen Sommerhimmel. Kein Lufthauch war zu spüren. Der Wind war wohl noch unterwegs und suchte.
Lulu seufzte.
Nach drei langen, ereignislosen Wochen fegte ein Windstoß durch den Garten.
„Ich hab einen gefunden, Lulu, aber – ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob das der Richtige für dich ist. Er ist unterwegs! Schau ihn dir an, und dann sag mir Bescheid. Ruf einfach nach mir. Ganz leise, ich höre dich, wo immer ich auch bin.“
Aufgeregt sprang Lulu auf, rief nach ihrem Schäfchen, sprang auf seinen Rücken und ließ sich eilends ins Schloss tragen, geradewegs in die Kammer, in der ihre Mutter reglos und starr auf ihrem Bett lag.
„Mama, Mama! Der Wind hat einen Königssohn gefunden, der uns erlösen kann. Er ist schon auf dem Weg hierher!“ Sie drückte ihrer Mutter einen dicken Kuss auf die Stirn und wirbelte herum zu ihrem Schäfchen.
„Los, jetzt zum Papa! Ich muss ihm doch auch die frohe Nachricht bringen. Bald ist es soweit. Dann kann er endlich die Krone ablegen, die ihm so schwer wird in letzter Zeit und sich nur noch um seinen Garten kümmern. Los, renn!“
Der alte König war überglücklich zu hören, dass Rettung in Sicht war. Wie freute er sich auf den Augenblick, in dem seine geliebte Frau wieder sie selbst sein würde. Und sein Kind! Seine geliebte Tochter, die endlich eine normale Frau sein würde. Groß und glücklich verheiratet mit einem Königssohn. So, wie andere Prinzessinnen auch. Und dann würde er endlich seine Krone übergeben und mit seiner Frau in seinem Garten leben. Glücklich und zufrieden.
Bereits am Abend desselben Tages klopfte es laut am Tor des Schlosses, und eine forsche Stimme befahl, augenblicklich zu öffnen. Lulu auf ihrem Schäfchen stürmte über die Zufahrt dem Tor entgegen. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Prinzen zu sehen. Sie hatte sich in aller Eile umgezogen und ihre kleine, goldene Staatsrobe mit dem Diadem angelegt. Aufgeregt presste sie beide Hände auf ihr wild schlagendes Herz.
Das Tor ging auf.
Ein Tross von rund fünfzig Reitern, mit Lanzen und Speeren bewaffnet, drängte sich in den Burghof. Achtlos vorbei an Lulu auf ihrem Schäfchen, die erschrocken in eine Ecke zurück gewichen war, um nicht zertrampelt zu werden.
„Wo ist der König?“, tönte eine laute Stimme. „Hier kommt Richard, der Prinz von Bermuda, dem goldenen Reich.“
Langsam, mit würdevollen Schritten, kam der König die Freitreppe herab und verneigte sich vor seinem Gast:
„Seid mir willkommen, edler Herr. Wir sind glücklich, Euch und die Euren bei uns in unserem kleinen Königreich begrüßen zu können. Bitte, tretet näher.“
„Wir sind hungrig und müde. Ich hoffe, ihr habt genug Essen und Trinken, damit ich und meine Leute uns ordentlich stärken können. Und“, er hieb dem alten König auf die Schulter, dass der zusammen zuckte, „ich habe gehört, hier gibt es eine Königstochter, die unbedingt einen Mann braucht. Die will ich mir mal ansehen. Wer weiß, vielleicht? Ich bin auf der Suche nach einer passenden Braut. Wenn sie gut genug für mich ist, dann ist es durchaus möglich, dass ich hier demnächst die Krone tragen werde.“
Lulu schlug die Hände vor den Mund, lenkte ihr weißes Schäfchen vorsichtig tiefer in den Schatten der Freitreppe und von da aus in den Garten. Hier war sie in Sicherheit. Hier würde der arrogante, aufgeblasene Prinz sie nicht finden. Und Papa würde sie bestimmt nicht verraten. Nie und nimmer würde er sie so einem Menschen zur Frau geben. Selbst, wenn er der Einzige wäre, der die Verwünschung aufheben könnte.
„Habt ihr ihn gesehen und gehört?“, wisperte sie und erzählte. Die Blumen schüttelten leise ihre Köpfchen. Auch die vielen hundert Singvögel, Schmetterlinge und die alte Libelle waren im Garten geblieben und hatten nichts mitgekriegt. Jetzt aber erhoben sie sich wie auf Befehl, die Luft rauschte von ihrem Flügelschlagen, und sie schwärmten aus. Sie stießen auf den Prinzen hernieder, kreischten, wirbelten, pieselten und hackten in seine gelackten Haare. Der Prinz erschrak, schlug wild um sich und fuchtelte mit seinem Schwert, aber es nützte nichts. Je mehr er schrie und fluchte, desto heftiger bedrängten ihn die Vögel, bis er nur noch fliehen konnte. Sobald er die Zugbrücke hinter sich hatte, gab er seinem Pferd die Sporen und sprengte mit donnernden Hufen davon. Seine Leute standen mit weit offenem Mund. Sie schienen unschlüssig, machten aber keine Anstalten, ihrem Herrn zu folgen. Fragend schauten sie sich an, dann, so nach und nach, stieg einer nach dem anderen von seinem Pferd, legte seine Waffen auf den Boden und kniete vor dem alten König nieder. „Bitte, lass uns bleiben, wir wollen dem Prinzen nicht länger dienen.“
Im Garten hatte Lulu sich auf ihr Seerosenblatt gekauert. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie hörte nur den Krach, aber sie hatte keine Ahnung, was dort vor sich ging.
„Lieber Wind“, flüsterte sie, „lieber Wind, komm geschwind, wir brauchen deine Hilfe!“
„Tut mir leid, Lulu, das war wohl der Falsche.“ Der Wind raschelte leise mit den Blättern. „Aber gib mir noch etwas Zeit, ich suche weiter. Irgendwo auf der weiten Welt gibt es den Königssohn mit dem reinen Herzen.“ Und er erhob sich und war weg.
Tag um Tag verging, der Sommer neigte sich, es wurde kühler und dunkler. Die Blumen froren, legten ihre Blüten ab und betteten sich tief in der Erde zur Ruhe. Auch die Seerosen tauchten ab ins tiefe Wasser. Die Bäume wurden kahl, und die Vögel suchten sich ein warmes Winterquartier in den dichten Hecken. Der eine oder andere verließ sogar den Garten, zwitscherte ein schnelles „Bis zum nächsten Jahr“ und flog von dannen.
Lulu mochte den Winter nicht. Sie hasste Kälte und Dunkelheit. Stundenlang hockte sie vor dem Kamin in der großen Halle und träumte vor sich hin. Wann mochte der Wind ihr den Königssohn bringen, der sie und ihre Mama erlösen konnte? Bei jedem Geräusch von draußen oder jedem Pochen am Tor fuhr sie auf und starrte erwartungsvoll zur Türe. Aber immer wieder wurde sie enttäuscht.
Am Weihnachtsmorgen schlich Lulu in aller Frühe auf ihrem Schäfchen durch eine kleine Türe im großen Tor, überquerte die Zugbrücke und ritt in das weite Tal. Sie hatte sich in einen dicken Poncho gehüllt, denn es war bitterkalt. Schnee bedeckte die Berge rings umher. Sogar in den Niederungen lagen noch Schneereste, und der Frost hatte bizarre Muster gemalt. Lulu zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht und hauchte abwechselnd in ihre Hände, die schon blau gefroren waren. Sie wusste selber nicht, warum sie hier draußen umher streifte, statt zuhause in ihrem warmen Bett zu liegen. Aber irgendetwas trieb sie an.
Immer weiter trabte das weiße Schäfchen, mal geradeaus, mal nach rechts, mal nach links. Aber plötzlich stoppte das Tier abrupt und wandte den Kopf. Es blökte leise.
„Was ist denn?“, fragte Lulu. Sie schaute sich um. Da hinten, am Rand einer Wiese in einer verharschten Schneewehe lag irgendetwas. Mit dem Schäfchen am Zügel ging Lulu langsam darauf zu. Es schienen Stiefel zu sein, alte, verschrammte Stiefel, die dringend eine neue Sohle brauchten.
Lulu zog daran, aber sie war zu schwach. Die Stiefel bewegten sich nicht.
„Schäfchen, hilf mir“, bat sie.
Das Schaf schnupperte und stupste seine Nase in die unförmigen, alten Schneemassen. Dann fing es an zu scharren, und plötzlich tauchte ein Gesicht darin auf. Weiß wie frisch gefallener Schnee. Lange, braune Locken hingen strähnig über geschlossenen Augen. Es schien ein junger Mann zu sein.
Rasch beugte sich Lulu herunter und tastete nach einem Puls unter der eisig kalten Haut. Der Mann lebte noch, aber er brauchte dringend Hilfe. Verzweifelt stand Lulu da. Wie sollte sie einen ausgewachsenen Mann zum Schloss schleppen? Sie war doch viel zu klein.
Sie kniete sich vor das weiße Gesicht und versuchte, es zu wärmen. Dabei flüsterte sie unentwegt:
„Lieber Wind, komm geschwind, ich brauche deine Hilfe!“
Plötzlich blökte das Schäfchen wieder leise. Lulu kam hoch, sprang auf seinen Rücken und schaute angestrengt in die Runde. Was hatte das Tier gesehen oder gehört? Dann sah sie es auch. In der Ferne tauchten Lichter auf, Laternen, die nach allen Seiten geschwungen wurden. Rufe wurden laut. Sie wurde gesucht. Hilfe nahte.
Glücklich klatschte Lulu in die Hände. Sie legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund und stieß einen lauten Jubellaut aus. So schnell sie konnte, galoppierte sie mit ihrem Schäfchen den Reitern entgegen.
Nach zwei Tagen schlug der Fremde die Augen auf. Lulu, die nicht von seinem Bett gewichen war, biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Es war, als blickte sie in ihre eigenen Augen. Staunend schauten sie sich an. Vier strahlend hellblaue Augen.
„Ich bin Arnold“, sagte der Fremde. Dann wandte er langsam den Kopf und sah sich um. Er lag in einem bequemen Bett unter etlichen dicken Decken. Der Raum war ihm fremd. Aber dieses süße, kleine Gesicht mit den langen, schwarzen Locken und diese zwitschernde Stimme kamen ihm bekannt vor. Dabei war er sicher, dieses kleine Geschöpf noch nie zuvor gesehen zu haben. Aber trotzdem – irgendwie...
Langsam kam Arnold wieder zu Kräften. Auf einen knorrigen Stock gestützt, an seiner Seite die kleine Lulu, wanderte er durch den winterlichen Garten. Er kannte die Namen aller Bäume und Büsche und streichelte ihre borkigen Rinden. Nach und nach verlor er seine Scheu und fing an zu erzählen. Von seinem Garten, den er so geliebt hatte. Von seinem Reich hoch oben im Norden. Von seiner Familie, seinen Tieren.
Und so erfuhr Lulu fast nebenbei, dass er gar kein armer Wanderer war mit zerschlissenen Stiefeln und ohne Dach über dem Kopf, sondern ein Königssohn. Allerdings einer, der nichts mehr besaß. Alles, was ihm lieb und teuer gewesen war, war von einer gewaltigen Flutwelle zerstört worden. Ihm war nichts geblieben, nur das nackte Leben. Und so war er schweren Herzens aufgebrochen, eine neue Heimat zu finden.
„Bleib hier“, sagte Lulu, „bleib hier bei mir. Hier kannst du ein neues Leben beginnen.“
„Ach, Lulu“, seufzte Arnold und wischte sich über die Augen. „Wie gerne würde ich. Aber es geht nicht. Ich habe mich in dich verliebt, daher kann ich nicht länger bleiben.“
„Ist es, weil ich so klein bin?“, fragte Lulu bange.
Arnold lachte leise. „Nein, das hat nichts damit zu tun. Der Grund ist meine Armut. Ich besitze nichts mehr. Absolut nichts. Wie also könnte ich Anspruch auf dich und damit auf den Thron eures Landes erheben? Nein, ich muss gehen.“
„Aber ich liebe dich doch auch!“ Freudestrahlend zerrte Lulu an Arnolds Bein.
„Du bist genau der Richtige. Der Wind hat dich geschickt und mich zu dir geführt. Komm, nimm mich schnell auf den Arm. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
Der alte König war unendlich glücklich, als er die Neuigkeit erfuhr. Er hatte den jungen, bescheidenen Fremden längst in sein Herz geschlossen. Sofort ließ er die Hochzeit arrangieren, und schon nach wenigen Tagen feierten sie ein großes, ausgelassenes Fest mit all ihren Untertanen, Tieren, Vögeln und Pflanzen.
Nach Jahresfrist brachte Lulu ein kleines Mädchen zur Welt. Es hatte tiefschwarzes Haar und hellblaue Augen wie seine Eltern. Sie nannten es Angela.
Als Angela ein Jahr alt wurde, war der Zeitpunkt gekommen. Sie kleideten das Kind in sein schönstes Kleid und brachten es in die Kammer der starren Großmutter. Zitternd vor Aufregung legte Lulu ihre Tochter der alten Königin auf die Brust.
Aufmerksam betrachtete das Kind das starre Gesicht vor sich. Aber es schien sich wohl zu fühlen.
Es schmiegte sich enger an, hob eine Hand und streichelte die Augen, die Wangen und den Mund. Immer wieder.
„Gibst du Großmutter ein Küsschen?“, fragte Arnold.
Die Kleine lächelte, dann drückte sie der verwunschenen Königin einen Kuss auf die Lippen.
Im gleichen Moment schwebte die Libelle zum Fenster hinein, auf dem Fensterbrett drängten sich die Singvögel und stimmten ein vielstimmiges Konzert an.
Da schlug die Königin ihre Augen auf, entdeckte das kleine Kind und lächelte glücklich.
„Mein Kind!“ Sie drückte das Kind an ihre Brust, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.
Arnold schluckte, er hatte Tränen in den Augen. Er bückte sich, um seine Frau auf den Arm zu nehmen, sie zu drücken, seine Freude mit ihr zu teilen. Da schob sich eine weiche Hand in seine, und als er zur Seite sah, entdeckte er, dass sie aufrecht neben ihm stand, groß wie er selber und wunderschön.
So hatte das reine Herz einer Königstochter die Verwünschung aufgehoben, und sie lebten alle zusammen glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.
Copyright: Christel Wismans
Foto: Pixababy
Langsam trottete die Herde über die karge Steppe. Neun erwachsene Elefanten und ein Junges.
Schritt für Schritt, immer weiter, scheinbar ohne Ziel.
„Ich kann nicht mehr“, jammerte der kleine Elefant. „Wie lange gehen wir denn noch? Und Hunger hab ich auch ganz doll.“ Mit seinem kleinen Rüssel stupste er seiner Mutter gegen den Bauch.
„Still, Bumba“, schalt die Mutter, „du bist doch schon groß. Wir wandern zum Wasserloch. Wenn die Sonne untergeht, werden wir dort sein. Und wenn wir ganz viel Glück haben, sind wir früh genug, bevor all die anderen Tiere kommen. Dann können wir uns mal wieder so richtig schön abduschen. Ach, ich freu mich schon so darauf!“ Und sogleich schlug sie eine schnellere Gangart ein, als könne sie das Wasser schon riechen.
Verdutzt blieb der kleine Elefant stehen. „Duschen? Was ist das denn? Das hab ich ja noch nie gehört. Mama! Halt! Nun warte doch! Renn doch nicht so!“
„So komm schon!“ Die Elefantenkuh drehte sich im Laufen um: „Komm! Renn, mein Kleiner! Ich werde dir zeigen, wie du mit deinem Rüssel duschen kannst.“ Übermütig warf sie den Kopf zurück und trompetete laut. Wie auf Kommando rannte die ganze Herde los, wie ein Sturmwind flogen sie über die Steppe, dass der Boden unter ihren stampfenden Füßen dröhnte. Fassungslos starrte der kleine Elefant ihnen hinterher. Dann plumpste er auf sein Hinterteil. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Sie waren weg. Verschwunden.
Als auch die letzte Staubwolke am Horizont verschwunden war, erwachte der kleine Elefant aus seiner Erstarrung, rappelte sich auf und machte sich zögernd auf den Weg.
„Ich bin Bumba,ein großer, starker Elefant, ich bin tapfer und mutig und schlau. Ich bin Bumba, ein großer, starker Elefant, ...“ Bei jedem Schritt murmelte er leise beschwörend vor sich hin. Schon bald wurde sein Schritt fester, er hob den Kopf, wedelte mit dem Rüssel und fing laut an zu singen: „Hier kommt Bumba, der große, starke Elefant, ich bin tapfer und mutig und schlau.“
Aber je tiefer die Sonne sank, je länger die Schatten wurden, desto leiser wurde seine Stimme wieder. Er wedelte mit seinen großen Ohren und lauschte in alle Richtungen. Überall schien es zu rascheln, zu wispern. Er meinte sogar feurige Augen zu sehen, die ihn aus einem Gebüsch heraus beobachteten.
Bumbas Herz fing an zu rasen, er war in Versuchung, so schnell wie möglich weg zu rennen. Da plötzlich zwackte ihn etwas in den Vorderfuß, und eine helle, schnarrende Stimme zischte: „He, du grauer Dickmann, was ist los mit dir? Ich rieche Angst. Es kann doch wohl nicht sein, dass ein Riesentier wie du Angst hat?“
Erschrocken sah Bumba sich um. Wo kam bloß diese Stimme her? Wer war das?
„Hier unten, du Dussel! Kannst du mich vielleicht mal anschauen, wenn ich mit dir rede? Hast du keine Manieren? Nimm mich gefälligst mal auf deine lange Nase, damit wir auf Augenhöhe kommen.“
Bumba bückte sich, riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Um seinen Fuß schlängelte sich eine dicke, fette Schlange, die mit ihrer gespaltenen Zunge ungeduldig zu ihm hoch zischelte. Entsetzt sprang Bumba mit allen Vieren in die Luft, versuchte, die Schlange abzuschütteln, aber sie hatte sich etliche Male fest um seinen Fuß gewickelt. „Hör auf, du Blödmann. Ich will dir doch nur helfen. Nun nimm mich schon endlich hoch!“ Die Schlange seufzte und glitt geschmeidig auf den Boden zurück. Was geb ich mich eigentlich mit diesem Riesenbaby ab? Ach, ich bin einfach zu gutmütig.
Die Schlange klopfte mit ihrem Kopf fest auf Bumbas Fuß: „So. Nochmal ganz von vorne. Also, ich bin Nona und du?“
„Bumba, der kleine Elefant. Ich hab meine Mutter und die Herde verloren. Ich bin ganz alleine.“ Verstohlen wischte Bumba sich über die Augen.
„Ja, ja, so was ähnliches habe ich mir schon gedacht“, Nona seufzte, „wie kann man bloß seine ganze Herde verlieren? Bist wohl ein kleiner Träumer, hm? Aber komm, ich werde dir helfen, dass du heil und gesund zum Wasserloch kommst, wo deine Leute wohl über Nacht bleiben werden.“
Die Schlange kringelte sich zusammen, dann schraubte sie sich hoch, lauschte und stieß einen schrillen Pfiff aus. Bumba stand und staunte.
„Würdest du mich jetzt - bitte - endlich mal hochnehmen, damit ich besser sehen und dirigieren kann?“ Wieder stupste Nona den kleinen Elefanten an.
„Entschuldige“, sagte Bumba, bückte sich und nahm die Schlange vorsichtig mit seinem Rüssel auf. „Wo willst du denn sitzen? Und was willst du denn dirigieren?“
„Setz mich einfach zwischen deinen Augen irgendwo ab. Und das mit dem Dirigieren wirst du schon sehen.“
Es dauerte nur wenige Minuten, und die Steppe wurde lebendig. Von überall her kamen Tiere, große, kleine und ganz kleine. Selbst geflügelte Tierchen in bunten Farben schwirrten um Bumba herum. Es war ein Zwitschern in der Luft, Keuchen, Heulen, Knurren und Brummen. Bumbas Augen wurden immer größer.
„Meine Freunde.“ Nona klopfte mit ihrem Schwanz auf den Rüssel, „aber sag mal, bist du eigentlich schon in der Schule und hast gelernt, wie man kämpft oder bist du noch so'n Baby? Hm? Was also kannst du? Zeig mal, wie du dich gegen einen angreifenden Tiger verteidigst. Oder was machst du, wenn sich Löwen anschleichen?“
„Schule? Was ist das denn? Was muss ich denn lernen? Ich bin doch groß, viel größer als die anderen Tiere. Da muss ich doch nichts lernen. Oder etwa doch? Davon hat mir die Mama nichts gesagt. Ich hau denen, die mir was tun wollen, einfach feste mit dem Fuß auf den Kopf. Oder mit meinem Rüssel. Was meinst du, was ich da für Kraft drin habe? Soll ich mal?“
Und schon hob Bumba den rechten Vorderfuß und holte aus. Gleichzeitig peitschte er wild mit dem Rüssel um sich, dass Nona sich festhalten musste, um nicht herunter zu fallen. „Halt! Stopp! Okay, okay! Du hast mich überzeugt. - Also, pass mal auf. Spitz deine Segelohren: Meine Freunde und ich müssen auf schnellstem Weg ins Zauberland. Meine Tochter will heiraten, und da muss ich doch dabei sein. Aber wie du dir wohl denken kannst, bin ich nicht die Schnellste. Hab halt keine Beine. Und da hab ich mir gedacht, du bist allein, du hast Angst, du brauchst Schutz, aber du bist auch schnell, groß, und verteidigen kannst du dich auch. Du wirst unser Taxi. Du nimmst all meine kleinen Freunde mit auf deinen großen Rücken, die größeren laufen in unserem Schutz dicht neben uns, und ich dirigiere dich, weil du ja den Weg nicht kennst. Einverstanden?“
„Aber ich bin doch noch ein Kind. Ich muss meine Herde suchen. Ich will zum Wasserloch.“ Und wieder wischte Bumba sich verstohlen mit dem Rüssel über die Augen.
„Ja, ja. Ich bringe dich hin. Das liegt auf unserem Weg. Und dann können wir meinetwegen auch deine Mutter fragen, ob du uns ins Zauberland bringen darfst.“
Bumba zwinkerte. Dann tat er einen tiefen Atemzug und reckte sich zu voller Größe auf. „Ja, dann - meinst du denn wirklich, ich bin schon groß genug für so ein Abenteuer? Dass ich das kann?“ Er schluckte aufgeregt.
„Klar“, sagte Nona, „du bist zwar noch ein Kind, aber immerhin ein großes. Also – einverstanden?“
Bumba nickte heftig, und Nona rutschte ein Stück am Rüssel runter. „Lass das! Muss ich erst runter fallen?“ Nona schlängelte sich wieder zwischen Bumbas Augen, dann stieß sie einen schrillen Pfiff aus, und alle ihre Freunde kletterten, sprangen, flogen, hüpften, schleimten und schlängelten sich an dem kleinen Elefanten hoch. Zwei Kudus sprangen an Bumbas rechte und linke Seite, zwei junge Impalas stellten sich vor die kleine Karawane.
Nona klopfte Bumba mit ihrem Schwanz fest auf die Nase: „Das heißt geradeaus. Rechts und links wirst du dann schon erkennen. Also – alles bereit? Haltet euch gut fest! - Auf mein Kommando: los, Bumba, lauf! Lauf!“
Der kleine Elefant hob vorsichtig den Rüssel und trompetete laut. „Töröhhh! Aus dem Weg! Zauberland, wir kommen!“ Und schon stampfte er mit seinen neuen Freunden über die kahle Steppe, dass der Boden bebte.
Copyright: Christel Wismans
Zeichnung: Renate Anna Becker
Juan war ein kleiner Junge mit brauner Haut und schwarzen Haaren. Mit seinen fünf Jahren war er der jüngste seiner Familie, ein echter Wildfang, der weder Furcht noch Gefahr kannte. Er lebte mit seiner Mutter und den Geschwistern in dem kleinen Urwalddorf Boca da Valeria am großen Fluss. Sein Vater war kurz nach seiner Geburt bei der Jagd getötet worden, als ihn versehentlich ein Pfeil getroffen hatte, der mit Curare getränkt war. Curare, hatten seine Brüder ihm schon sehr früh beigebracht, Curare ist ein sehr gefährliches, tödliches Nervengift, das nur der Medizinmann aus bestimmten Blättern und Rinden herstellen kann. Deshalb durften Jungs zwar schon sehr früh den Umgang mit Pfeil und Bogen üben, aber niemals mit den Giftspitzen daran. Zu gerne wäre Juan trotzdem wie ein richtiger Mann mit auf die Jagd gegangen. Einmal war er den Männern hinterher geschlichen, leise wie ein Schatten.
Seine nackten Füße tappten lautlos über den Moosboden, fast unhörbar durchs Unterholz, doch der Älteste hatte ein gutes Gehör. Wie ein Jaguar sprang er mit einem gewaltigen Satz zurück und ragte wie ein Baum vor dem Jungen auf. Er packte ihn im Genick und schüttelte ihn wie einen nassen Hund. Seine Augen sprühten vor Zorn: „Wie kannst du es wagen?“, schimpfte er. „Weißt du nicht, dass die Jagd kein Spiel ist? Sie ist gefährlich! Nur Männer können jagen. Du bist ein dummer Junge! Zur Strafe bleibst du eine Woche bei den Frauen und Mädchen und lässt dich schmücken wie ein Mädchen, wenn ein großes Schiff anlegt und die Fremden kommen, um uns zu sehen.“
Beschämt schlich Juan zurück. Aber er wählte den Weg, der durch den dichten Dschungel am Dorf vorbei zum Fluss führte. Er liebte den Amazonas, das schlammig-braune Wasser, das träge wie ein riesiger Wal da lag, unendlich groß und breit. Ab und an trug er ein großes, weißes Schiff ans Ufer. Dann strömten hellhäutige Menschen in seltsamen Kleidern an Land. Sobald die Kinder solch ein Schiff von weitem sahen, rannten sie ins Dorf, laut schreiend: Sie kommen!
Dann ging es hopplahopp. Die Männer, die nicht auf der Jagd waren, bemalten sich mit grellen Kriegsfarben, schmückten sich mit ihren schönsten Federn und stellten sich mit Pfeil und Bogen stolz in Positur. Auch die Mädchen wurden von ihren Müttern mit ihren besten Kostümen geschmückt aufgestellt. Die anderen Kinder mussten einfach ihre Hände bittend ausstrecken, lächeln und sagen: One Dollar.
Bisher hatte Juan es immer geschafft, sich zu drücken. Er war ein Mann, ein Krieger und Kämpfer, ein stolzer Jäger. Und jetzt hatte der Älteste gesagt, er müsse sich wie ein Mädchen schmücken lassen, wenn die Fremden kommen. Nie, niemals würde er das können. Vor lauter Elend und Verzweiflung warf er sich auf den Strand und hämmerte mit seinen Fäusten ins Wasser, dass es platschte.
„Tschilp, tschilp, was hast du denn?“ Ein Pulk grüner Schwalben landete dicht neben Juan auf dem Sand. Kleine, schwarze Knopfaugen blickten besorgt. „Was ist los? Sollen wir für dich singen? Oder Fangen spielen? Das magst du doch. Komm, lach doch wieder und spiel mit uns.“
Aber Juan schüttelte den Kopf: „Ihr könnt mir nicht helfen. Heute nicht. Ich war ungehorsam und werde bestraft. Wie ein Mädchen. Ich schäme mich so. Ach, wenn ihr mich doch mitnehmen könntet! Weit weg. In die große Stadt, oder ans Meer...“
„Nein, tschilp, tschilp, das geht nicht. - Aber, warte! Ich habe eine Idee! Ich weiß, wer dir helfen kann. Kommt, Freunde, wir müssen suchen. Am besten teilen wir uns auf. Tschilp, tschilp! Lauf nicht weg, Juanito, wir sind gleich wieder da. Bleib hier sitzen! Tschilp, tschilp!“
Aber die Zeit verging, und Juan döste träge vor sich hin. Irgendwann vernahm er weit entferntes Rufen. Suchten sie ihn etwa schon? Sollte er sich vielleicht besser verstecken? Aber er hatte ja versprochen, hier zu bleiben, und er wollte nicht schon wieder ungehorsam sein und ein Versprechen brechen. Er buddelte sich tiefer in den feuchten Sand und versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu verscheuchen, die ihn immer wieder als Mädchen verkleidet, angemalt und mit bunten Federn geschmückt vor den Fremden zeigte. Niemals würde das passieren, schwor er sich wieder und wieder.
„Tschilp, tschilp, Juanito, wir sind wieder da!. Wir mussten ganz schön suchen, aber schau mal, wen wir dir mitgebracht haben!“ Ausgelassen tobten die grünen Amazonen um den Jungen herum. Mühselig buddelte Juan sich aus dem nassen Sand, rieb sich die Augen und sah sich suchend um. „Was – wen – wo...?“ !
„Na, da! Siehst du nicht? Tschilp, tschilp!“ Die Amazonen flogen kurz auf den Fluss und kehrten zurück. „Da! Dein Freund Wally!“
Tatsächlich. Juan hatte den breiten, grauen Rücken vor der tiefstehenden Sonne gar nicht gesehen. Aber jetzt bewegte sich ein Wal geschmeidig auf den Strand zu, blies eine hohe Fontäne und zwinkerte Juan mit einem Auge zu.
„Wally! Mein Freund! Mein Freund! Du bist meine Rettung! Oh Mann, ihr lieben Vögel, ihr habt Wally gesucht und ihm von meiner Not erzählt! Das werde ich euch nie vergessen. Nie im Leben! Danke!“
„Tschilp, tschilp, amigo, mach's gut. Und denke daran, auch, wenn wir dir jetzt geholfen haben, du bist noch ein Kind. Und Kinder müssen den Alten gehorchen. Im Dschungel herrschen strenge Gesetze, die muss jeder befolgen. Auch du, Juan! Das ist bei uns Vögeln nichts anderes. - Aber - wir müssen jetzt los, die Nacht kommt schnell. Tschilp, tschilp! Bis bald, dann spielen wir wieder Fangen!“
Juan sah ihnen nachdenklich nach, wie sie sich im grünen Pulk steil in die Luft erhoben und in der einbrechenden Dämmerung verschwanden.
„Gute Freunde hast du, mein kleiner Freund.“ Der Wal rieb sein Maul mit den langen Borsten vorsichtig an den nackten Beinen des Jungen. „Komm, steig auf, wir drehen eine Runde, bevor es ganz dunkel ist und du nach Hause musst.“
Juan kletterte flink auf den Rücken, der so breit war wie ein Floß, legte sich auf den Bauch und schlang beide Arme fest um den Kopf seines Freundes.
„Alles klar da oben?“, fragte Wally, „dann wollen wir mal.“ Langsam und behutsam, um seine Fracht nicht zu verlieren, glitt der alte Wal auf die Strommitte zu, vorbei an Sandinseln, pinkfarbenen Amazonas-Delphinen und mächtigen Kaimanen. Immer der untergehenden Sonne entgegen. Der kleine Junge seufzte glücklich. Langsam wurde er ruhig. Alle Sorgen und bitteren Gefühle fielen von ihm ab.
„Noch einmal pusten, Wally, bitte, und dann drehen wir um. Ich muss nach Hause. Die Mama wartet.“
Copyright: Christel Wismans
Foto: Pixababy
Im Zaubergarten der kleinen Fee Lillibelle wohnten viele Vögel. Kleine, größere, bunte, schwarze, aber auch unscheinbare. Lillibelle liebte sie alle und kannte sie beim Namen.
An diesem kalten Januarmorgen war sie schon früh auf den Beinen. Es war noch sehr dunkel. Aber Lillibelle konnte mit ihren Sternenaugen auch in der schwärzesten Finsternis gut sehen. Sie trug einen Krug mit weichem Rosenwasser und füllte nacheinander sämtliche Gefäße, die verteilt im Garten standen. Denn Lillibelle wusste, dass ihre kleinen Freunde nicht nur Hunger, sondern auch Durst hatten.
„Nanu, ihr Beiden, ihr seid schon wach?“ Vier Knopfaugen lugten über den Rand des Nests und verfolgten Lillibelles Tun. Zwei verschlafene und zwei hellwache.
„Der Berti hat mich einfach geweckt“, maulte Jenny, die kleine Blaumeise und schaute vorwurfsvoll zur Seite auf ihren Bruder.
„Moin, Lillibelle! - Wenn die alte Schlafmütze doch nicht von selber wach wird, kann ich ruhig ein bisschen nachhelfen. Oder? Es ist doch schon bald Tag, und ich hab große Lust, Karussell zu fahren. Hast du es aufgefüllt? Gestern Abend war es schon ziemlich geräubert. Die frechen Spatzen haben gefressen, als gäbe es heute nichts mehr. Für unsereins bleibt da nicht mehr viel, wenn die zulangen.“
Die Fee lachte leise: „Es ist genug für alle da. Der Garten ist doch groß. Ihr findet überall Futter.“
„Ich will aber Karussell fahren.“
„Das Karussell ist auch neu aufgefüllt. Also, ihr Beiden, dann mal los, bevor alle anderen wach sind.“
Das ließen sich die beiden Blaumeisen nicht zweimal sagen. Vorsichtig, um die anderen nicht zu wecken, hüpften sie auf den Nestrand, breiteten ihre Flügel aus und flogen quer durch den Garten.
„Vorsichtig, Berti, sei doch nicht so wild. Sonst stürzt du wieder .“
Aber schon war es passiert. Kaum, dass Berti mit Karacho gelandet war, setzte sich das Futterkarussell in Bewegung und schwang rasend schnell im Kreis. Unsanft wurde Berti heruntergeschleudert. Nicht mal die Flügel konnte er schnell genug ausbreiten, um den Sturz abzufangen. Er fiel wie ein Stein. Mitten auf frische, weiche Erde.
„Tschirp, tschirp!“ Er bemühte sich aus Leibeskräften, seine Füße aus der feuchten Erde zu befreien.
„Also, sag mal,“ brummte es empört neben ihm, „kannst du nicht aufpassen, du Zwerg? Beinahe hätte ich dich erwischt. Du weißt doch, dass ich nicht sehen kann. Muss ich mich schon am frühen Morgen aufregen?“
Zwischen großen Schaufelhänden tauchte ein braunes, pelziges Gesicht mit einer rosigen, langen Schnauze auf.
„Oh je, der grantige Maulwurf“, wisperte Jenny erschrocken und flog zu ihrem Bruder hinunter. „Lass uns schnell verschwinden. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen, wenn man ihn stört.“
Aber Berti hatte sich schon aufgerappelt und seine Federn ausgeschüttelt. „Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung, alter Herr, war keine Absicht. Schönen Tag noch.“
Schleunigst flogen die beiden Meisen von dannen.
„Gerade noch mal gut gegangen“, rief Jenny, „du bist aber auch ein Tollpatsch. Immer und überall passieren dir solche Dinge. Wird Zeit, dass du endlich vernünftig wirst.“ Aber Berti grinste nur und drehte im Flug eine übermütige Pirouette.
Inzwischen wurde es langsam heller. Die Schwärze der langen Nacht wich der ersten fahlen Morgendämmerung. Die Fee schwebte bereits durch den Garten und löschte nach und nach alle Lichter.
Plötzlich donnerte eine laute Stimme: „Hubertus! Wo steckst du wieder? Komm sofort nach Hause. Und bring deine Schwester mit.“
„Hubertus. Ach, du lieber Himmel. Papa. Und ganz schön sauer, wie es scheint. Ich glaub, wir warten lieber noch ein paar Minuten, bis er gefrühstückt hat. Dann wird er wohl hoffentlich bessere Laune haben. Komm, wir verstecken uns hier im Apfelbaums.“
Auf einem dünnen Zweig ganz weit oben kuschelten sie sich dicht aneinander. Plötzlich richtete Berti sich auf und stieß Jenny mit seinem Flügel in die Seite.
„Guck mal schnell, da unten, was ist das denn für einer?“
„Wer? Wo?“ fragte Jenny und beugte sich vor.
„Na, der schwarze Fettsack, der da unten am Zaun hängt und von unserer Futterstange frisst. Das ist doch keiner von uns. Mit so einem langen Schwanz?“
In dem Moment kletterte das Wesen flink am Draht des Zauns herunter und huschte ins Unterholz. Weg war es.
Die beiden Blaumeisen guckten sich ratlos an. „Ob die Anderen den kennen? Wir müssen doch mal fragen. Vielleicht ist der gefährlich? Wenn der schon unser Futter frisst, dann frisst der vielleicht auch uns? Immerhin sind wir neben den Zaunkönigen die Kleinsten hier im Garten. Und der da ist schon mächtig groß.“
„Ach, Quatsch, Schwesterchen, du brauchst keine Angst haben. Ich bin doch bei dir. Dein großer Bruder beschützt dich.“ Stürmisch beugte sich Berti zu Jenny.
„Vorsicht! Pass auf!“
Zu spät.
Durch die kahlen Äste stürzte Berti hinunter auf den Boden. Einen Moment lang blieb er benommen liegen. Doch als er von oben das Kichern seiner Schwester hörte, rappelte er sich schnell auf. Wie peinlich! Er war schon wieder abgestürzt.
„Komm hoch, mein großer Beschützer“, zwitscherte Jenny, „komm, aber ganz vorsichtig. Die Sonne geht gerade auf. Sie ist riesig und feuerrot heute Morgen. Du solltest sie nicht verpassen.“
„Oh je, so spät schon? Kein Wunder, dass Papa ruft.“
„Er ist bestimmt sauer, weil wir heute früh einfach so abgehauen sind.“
„Dann müssen wir ihn ablenken. Am besten fragen wir ihn gleich nach dem komischen Tier mit dem langen Schwanz. Dann vergisst er zu schimpfen. Und wir sind fein raus. Los, komm jetzt. Und pass auf!“
Der Plan ging auf.
Noch bevor der Papa den Schnabel öffnen konnte, überfielen ihn die beiden Kleinen mit einem aufgeregten Wortschwall. Der Papa riss die Augen auf: „Kann das eine Katze gewesen sein? Ich habe davon gehört, dass es in der Welt der Menschen solche Tiere geben soll. Sie machen Jagd auf uns Vögel. Und klettern können sie auch. Erzählt noch mal, wie groß war das Wesen? War es überhaupt ein Tier? Und wie ist es wieder verschwunden? Durch die Löcher des Zauns nach draußen, sagt ihr? Hm.“ Vater Meise schüttelte den Kopf, „Hm, ich werde die Fee fragen. Vielleicht kennt sie so ein Tier.“ Er wippte auf und ab und dachte angestrengt nach. Die Strafpredigt hatte er vergessen.
Die beiden kleinen Blaumeisen schauten sich verstohlen an. „Dann können wir jetzt gehen, Papa?“ Und schon waren sie weg. „Das ist ja nochmal glimpflich abgegangen. Schnell weg. Komm. Und pass jetzt um Himmelswillen besser auf, Berti!“
Schon von weitem hörten sie die Spatzen. Sie hocken wie üblich alle zusammen im Holunder und besprachen lautstark ihren Tag.
„Eigentlich ist jetzt eine gute Gelegenheit, Futter zu picken. Noch keine Konkurrenz da von den frechen Braunen“, sagte Berti.
„Aber nicht wieder ins Karussell!“
„Nein, lass uns in den Tannenbaum fliegen.“
„Aber der piekst so!“
„Jetzt stell dich nicht so mädchenhaftig an. Wir steuern direkt auf einen der Knödel zu und hängen uns daran, dann kommst du mit den Nadeln überhaupt nicht in Berührung. Guck mal, ich mach es dir vor.“
Natürlich hatte Berti zu viel Schwung und landete ein ganzes Stück über dem Knödel. Und jetzt? Er legte den Kopf schief und überlegte. Sollte er es mit einem Kopfstand probieren, wie er das schon so oft bei den Spatzen bewundert hatte? Einfach mit den Füßen festkrallen und dann kopfüber runter beugen und fressen. Das hatte immer ganz einfach ausgesehen. Und wenn plumpe Spatzen das können, dann sollte das für eine zierliche, kleine Blaumeise doch wohl kein Problem sein.
Berti hüpfte näher: „Jenny, guck mal, wie ich das mache!“
„Pass auf!“
Er holte tief Luft, beugte sich vorsichtig vor und ...
Schneller, als Berti fiepen konnte, verlor er den Halt, prallte mit dem Gesicht auf den Knödel, rutschte ab und landete unsanft zwischen pieksenden Tannenzweigen. Noch während er sich mühsam aufrappelte, hörte er eine tiefe Stimme: „Kinder, schaut gut hin. Habt ihr den Tollpatsch gesehen? So geht es nicht. Das ist auch der Grund, warum wir schlauen Amseln die Knödel nicht direkt anfliegen, sondern das fressen, was unten auf dem Boden liegt. Die kleinen Piepmätze lassen immer mehr als genug fallen. So, Kinder, kommt, und jetzt gehen wir baden.“
Baden? Berti glaubte, sich verhört zu haben. Die wollten doch wohl nicht wirklich im kalten Januar baden? Im eisigen Wasser? Er stieß einen kurzen Ruf aus: Jenny, komm runter, hier gibt es was zu sehen.
„Was ist denn?“, fragte Jenny mit vollem Schnabel, als sie neben ihrem Bruder landete.
„Du glaubst es nicht, die Amseln wollen baden gehen. Das muss ich sehen. Komm.“
Sie hockten sich auf die kleine Hecke, von der aus sie einen guten Überblick hatten. Vater Amsel stakste bereits vorsichtig in die Wasserschale, die auf dem Mäuerchen stand. Er schüttelte sich kurz, dann tauchte er, hüpfte, planschte und spritzte, dass das Wasser in alle Richtungen flog.
Das sah irgendwie sehr verlockend aus. Trotz der Kälte. Und die Amsel schien einen Heidenspaß zu haben.
Berti zappelte. Am liebsten würde er auch. Sollte er ? Ja ?
Mit einem Satz hüpfte er runter auf den Rand der Badewanne. „Yippie!“, schrie er und wollte sich kopfüber ins Wasser stürzen. Aber er hatte nicht mit der Amsel gerechnet. Ungläubig starrte sie die winzige Meise an, die in ihrem Wasser plantschen wollte, senkte den Kopf und drängte sie mit einem einzigen Satz aus der Wanne. „Du Zwerg, du Wicht, du wagst es, mich beim Baden zu stören? Du, du … bist du nicht dieser Chaoten-Vogel? Man sollte dir eine Warnweste verpassen, mit Glocke, damit alle Tiere hier im Zaubergarten vor dir gewarnt werden, du tollpatschiges Dings, du.“
Noch ein letzter vernichtender Blick in Bertis Gesicht, dann stakste die Amsel hochmütig zurück in ihr Bad. Zurück blieb ein ziemlich bedripster Berti. Was hatte er denn getan?
Jenny tat das Herz weh vor Mitleid mit ihrem Bruder. Sie hüpfte auf den Boden und schmiegte sich ganz dicht an Berti. „Lass doch die olle Amsel. Mach dir nichts draus. Die ist ja nur neidisch, weil du so hübsch und zierlich bist und sie nur dieses langweilige, schwarze Kleid hat.“
Leise, nach und nach, tauchten Spatzen und Kohlmeisen auf, dann der Buntspecht, das Rotkehlchen, die Zaunkönige, alle, alle kamen sie und hockten sich im Kreis um die beiden kleinen Blaumeisen. „Nicht traurig sein, Kleiner“, versuchten sie zu trösten. „Mach dir nichts draus. Die Amseln sind nun mal ein bisschen hochmütig. Sie meinen, weil sie so schön singen können, sind sie etwas Besonderes. Aber die Fee liebt uns alle, so, wie wir sind. Sogar die fette Ratte von nebenan, die immer wieder versucht, uns unser Fressen zu klauen. Oder den Maulwurf mit seinen Riesenhänden. Oder die Katze, die sich ab und an zu uns hereinschleicht, zum uns zu jagen.“
Da meldete sich ein struppiger Spatz: „Berti, du bist vielleicht ein Tollpatsch, aber doch kein Chaot, du bist einfach nur noch nicht erwachsen. Du bist noch übermütig und wild. Das ist doch nichts Schlimmes. – So, und jetzt Leute, was haltet ihr davon, wenn wir alle zusammen ein großes Fest feiern? Nur wir Kleinen? Ja? Dann trommelt mal eure Freunde zusammen.“
Und so kam es, dass dieser Tag, der so holprig begonnen hatte, im Kreise von Freunden mit Lachen und Singen endete.
Copyright: Christel Wismans
Foto: pixababy
„Ihh, Mama, was ist das für ein fieses, weißes Zeug? Ich krieg kalte Füße davon. Was ist das?“Die kleine Meise versuchte, sich näher bei der Mutter anzukuscheln, aber die schlug ärgerlich mit dem Flügel:
„Weg, du bist doch schon groß. Was soll das Gezicke? Bist du eine starke Kohlmeise oder was? Das ist Schnee. Eigentlich solltest du das wissen. So was hat man in den Genen. Und jetzt hör auf zu
heulen und flieg los und guck, wo unsere Menschen Futter ausgebracht haben. Achte auf runde Knödel oder längliche Fettpfannen. Meistens hängen sie im Flieder oder in der Magnolie – wie, du weißt
nicht, welcher Baum welcher ist? Hab ich dir das nicht im August beigebracht? Hast du alles wieder vergessen? Nee, nee, was mach ich nur mit so einer Trantüte!“
„Aber Mama, alles sieht so gleich aus“, jammerte die kleine Meise, „ich hab auch schreckliche Angst, dass ich untergehe und dann finde ich dich nie mehr wieder.“
„Wir können darauf laufen“, die alte Kohlmeise hüpfte demonstrativ auf der weißen, weichen Matte auf und ab. „Siehst du? Wir gehen nicht unter. Du kannst höchstens bis zum Knöchel
einsinken, das ist alles. Aber Tante Soffie, die alte Krähe, und die eingebildeten Amseln, die uns im Sommer nie Platz machen und uns nicht die Laus am Stamm gönnen, die können schon einsinken!
Hihihi! Die schon! Du hast doch bestimmt gesehen, wie dick vermummt die rumlaufen. Überhaupt keine Taille mehr. Also ich, ich würd mich ja schämen! Die sind so was von empfindlich! -
Aber was ich sagen wollte, Kind, flieg einfach los und schau in jeden Baum. Aber vielleicht sind unsere Menschen ja auch noch gar nicht so weit, dass sie an Winterfutter für unsereins denken.
Manchmal sind die schon sehr verschnarcht. Aber andererseits, kam ja auch echt früh und überraschend dieses Jahr, der verdammte Winter. – Also los, Kind, und - Halt! noch was Wichtiges! Nimm dich
in Acht vor dem Buntspecht. Ich habe ihn gestern gehört, der scheint sich diesen Winter in unserem Revier einzunisten. Dieser Vielfraß geht immer an unsere Knödel und frisst uns alles vor der
Nase weg. Mit dem ist nicht zu spaßen. Also, aufpassen!“
Die kleine Meise flog los und nahm Kurs auf den Sommergarten, in dem sie geboren worden war. Nur sah der heute völlig anders aus. Alles voll von diesem komischen Schnee. Da sollte sich noch
einer auskennen.
„Hallo? – hallo?“ Leise rief sie in die weiße Stille hinein.
Unter dem großen Lorbeer schauten zwei dicke, schwarz vermummte Amseln heraus: „Hau ab! Ist noch kein Futter da.“
„Doch, die Alte hat das nur noch nicht mitgekriegt", piepste ein kleines Stimmchen. "Der muss man das Futter auf dem Silbertablett servieren, bevor die was merkt. Komm her, hier im Flieder sind
wir alle.“
Aus dem weißen Puderbaum hörte der kleine Vogel leise Stimmen, und als er sich vorsichtig auf das kalte Weiß setzte, sah er durch die Zweige in die Gesichter seiner Freunde und Verwandten. „He,
was ist los? Wieso seid ihr alle zusammen hier?“
„Na, um zu fressen, natürlich. Du wirst dich noch wundern, wen du demnächst alles hier im Garten sehen wirst. Sie kommen von nah und fern, wenn sie Kohldampf haben. Da sind Kameraden dabei, die
hast du noch nie im Leben gesehen, in allen Farben, sag ich dir!“
Die keine Meise näherte sich dem pendelnden Knödel, aus dem es verführerisch duftete. „Geh mal weg!“ piepste sie, „lass mich auch mal! Ich hab so was noch nie gefressen.“
Aber in dem Moment, als sie sich in das grüne, klebrige Netz krallte und den Schnabel spitzte, ertönte ein Schrei: „Der Specht! Der Specht! Bringt euch in Sicherheit!“
„Aber der tut doch nix“, beruhigte die tiefe Stimme einer Amsel, die unten auf dem Schneeboden nach Krümeln suchte, „der tut nix. Allerdings," ein klein wenig Gehässigkeit schlich sich in ihre
Stimme: „ solltet ihr ihm schleunigst Platz machen. Der versteht keinen Spaß, wenn er da so einen kleinen Wicht an seinem Knödel hängen sieht. Hohoho! Also, - zischt ab!“
Im Nu hatten sich die kleinen Vögel versteckt. Ein bisschen Angst hatten sie schon, denn die meisten von ihnen hatten noch nie von einem Specht gehört, geschweige denn, ihn gesehen. „Da, guckt
mal, da kommt er! Boah, ist der riesig!“
„Und so schön bunt“, leiser Neid klang aus der Stimme des etwas unscheinbaren Finks.
Fasziniert schauten die kleinen Vögel auf den großen. Wie gewandt der sich an den kleinen Meisenknödel hängte! Und mit welcher Kraft der zuhackte! Dass der Knödel dabei nicht abriss! Dann würden
die Amseln sich kaputt lachen. Und mit Sicherheit würden auch die ollen Krähen und die frechen Elstern ratzfatz auf der Matte stehen und sich um die besten Brocken reißen. Das durfte nicht
passieren. Ganz fest drückten sie ihre kleinen Krallen aneinander.
Plötzlich schob sich neben dem Baum eine Balkontüre auf, ganz leise und vorsichtig, und ein kleiner Fotoapparat blinkte in der fahlen Mittagssonne. Augenblicklich schwang sich der Buntspecht in
die Luft, und die kleinen Vögel duckten sich hinter den Schneehauben. So was mochten sie überhaupt nicht. Nicht, dass sie wirklich Angst hatten vor ihren Menschen, aber so ein bisschen schüchtern
waren sie schon. Nur die dicken Amseln pickten weiterhin in aller Seelenruhe die heruntergefallenen Körner. Abhauen? Sie? Nie im Leben. Das hier war ihr Garten, und die Menschen durften
froh sein, wenn sie geduldet wurden.
Die kleine Meise platzte fast vor lauter neuen Eindrücken. Das musste sie der Mutter erzählen. Eilig verabschiedete sie sich von ihren Freunden und flog heim.
Heim. Heim? Ähm, wo war noch mal das neue Winter-Zuhause? Hier lang oder doch dorthin?“
Copyright: Christel Wismans
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com