Eigentlich sollten es nur drei Tage sein.
Montags morgens mit Ryanair ganz früh hin nach England und Freitag in aller Frühe wieder zurück. Drei Tage und der Rest vom Montag bei unserer Tochter. Weit weg vom Alltag, abschalten,
entspannen, genießen, auftanken, einfach mal Ruhe.
In Birmingham wurden wir schon erwartet von unserer Kleinen mit ihrem noch kleineren Sportflitzer. Wie immer auf der falschen Straßenseite brauste sie mit einem Affenzahn durch den dichten
Verkehr auf der Autobahn. Ich lag halb sitzend hinten mit verknoteten Beinen und tief gebeugtem Kopf. Dieses Auto musste ein Sadist für seine geliebte Schwiegermutter erfunden haben. Aber die
Fahrt dauerte ja nicht lange. Die halbe Stunde - phh!
Aber ach, das Aussteigen!
Mittags bummelten wir durch Leicester. Das neue, riesige Shoppingcenter hatten wir noch nicht gesehen. Wir brauchten Geld. Der Finanzminister schob seine Karte in den Geldautomaten. Aber statt
der erwarteten englischen Pfund erschien der Hinweis: insufficient funds. Wie jetzt? Keine Deckung? Nächster Automat: insufficient funds. Nächster: insufficient...… Langsam kam leichte Panik auf.
Hatte da jemand über Nacht unser Konto geräumt? Oder warum, was, wie…?
„2010.“ Mein Mann hatte plötzlich eine Eingebung, steckte seine Bankkarte wieder ein und zog seine Payback-Maestro-Karte aus der Tasche. „Das ist das Problem mit der Umstellung auf 2010. Das
stand doch Anfang des Jahres in den Zeitungen.“
Problem erkannt und gelöst. Der englische Automat nickte und spuckte brav die Kröten aus.
In den nächsten zwei Tagen erholten wir uns. Aller Stress fiel von uns ab. Wir marschierten stundenlang durch den Bradgate-Park nördlich von Leicester. Der kalte Wind blies unseren Kopf frei, und
wenn wir kaum noch die Beine mitkriegten, schleppten wir uns in den Pub im nahen Dorf, aßen eine Kleinigkeit und schlürften selig einen Pint Bier. Abends trafen wir uns in geselliger Runde mit
Freunden und fielen für unsere Verhältnisse sehr früh ins Bett.
Donnerstag morgen, wir bummelten noch oben im Bad, rief unsere Tochter: „Mutti, Paps, kommt mal runter!“
Mit Rasierschaum im Gesicht - mein Mann, nicht ich!- standen wir im Wohnzimmer vor dem Fernseher und stierten auf die Nachrichten, die wir nicht verstanden. Erst langsam, so ganz langsam nach und
nach, sickerten die Meldungen in unser Gehirn. Ein Vulkanausbruch in Island. Flucht der Menschen, Aschewolken, keine Flüge mehr.
Wie gebannt standen wir und schauten auf das Nachrichtenband, versuchten, das Ausmaß der Katastrophe zu verstehen, die Bedeutung an sich und auch für uns.
Ein alter Flugkapitän schob sich ins Bild. Er erzählte, wie er vor vielen Jahren in Asien eine vergleichbare Situation erlebt hatte. Die Wolke, der Ausfall der Motoren, die Panik bei den
Passagieren, ein segelndes Flugzeug ohne Segel.
Er wurde ausgeblendet, Bilder von Island flimmerten über die Mattscheibe. Ein Szenario wie aus einem futuristischen Horrorfilm: dunkles Land, dunkelgrau, kein Licht, keine Sonne. Ein Auto,
geduckt unter der Last einer halbmeterdicken Schicht dunkler Asche, bahnt sich einen Weg ins Nirgendwo.
Dann wieder der alte Flugkapitän mit weiteren erschreckenden Visionen, die damals Wirklichkeit waren.
Dann News beim Nachrichtenband: Ryanair hat für heute und morgen sämtliche Flüge von und nach England gestrichen. Also auch unseren Flug.
Unsere Tochter versuchte sofort im Internet mehr von Ryanair zu erfahren. Sämtliche Seiten waren überlastet und dann tot. Irgendwann aber kam sie weiter und buchte sofort unseren Flug um
auf Montag früh. Bis dahin, so glaubten wir, ich jedenfalls, würde sich die Lage beruhigt haben. Wir machten uns noch einen schönen Tag und gingen shoppen. Auch den Freitag genossen wir noch in
aller Ruhe und fuhren wieder raus nach Leicestershire in den Bradgate Park. Ich wieder gebeugt auf dem Rücksitz-Fast-Kofferraum. Das rückwärtige Aussteigen hatte ich mittlerweile schlangengleich
bis zur Perfektion verfeinert.
Gegen Mittag kam die Sonne kam raus und wärmte das, was nach unserem ziemlich steilen Anstieg zum Aussichtsturm noch halb erfroren war. Wieder unten suchten wir uns einen Ruheplatz im trocknen,
alten Laub und genossen wohlig-träge die Sicht in den unendlichen Himmel. Endlose Bläue, keine Kondensstreifen, nichts. Wir fühlten uns wohl und sicher. Alles schien in perfekter Ordnung. Da oben
war nichts. Nichts Bedrohliches. Nichts Dunkles. Einfach tiefblauer Himmel. Heiß brennende Sonne auf unserer Haut, Hummelbrummen, laute Kinderstimmen einer Kindergartengruppe, die in den Höhlen
der uralten Bäume Verstecken spielten. Harmonie und Frieden.
Abends zuhause holte uns die Wirklichkeit wieder ein in Form von erschreckenden Nachrichten. Gecancelt, gecancelt, gecancelt. Überall wurden die Flughäfen geschlossen, in Deutschland, Belgien,
Niederlande, in ganz Skandinavien. Die Katastrophe war perfekt.
Ryanair verschob seine Flüge auf frühestens Montag Mittag. Damit war unser umgebuchter Montag- früh-Flug auch weg. Wir überlegten hin und her. Der Vulkan spuckte noch immer unverändert.
Zuhause würden unsere Pflanzen verdursten. All die jungen, neu gezogenen und ausgesäten Geranien, Tomaten, und Gurken. Die Kübel mit den blühenden Hibisken, alles, alles würde bei diesem
Sonnenwetter den Bach runter gehen. Und Schneeweißchen (meine Mutter) auch.
Wir telefonierten.
HILFE!
Unsere Tochter sah schwarz. Jedenfalls für einen Flug. Sie suchte nach anderen Möglichkeiten. Bei der STENA-Line von Harwich nach Hook van Holland fand sie noch zwei Fußgängerplätze für die Fähre
am Montag früh um 9 Uhr. Sie buchte sofort. Ebenfalls ein Hotel in Harwich.
Ihr Partner, (der mit dem Auto für mehr als zwei Personen, wo auch ich hinten aufrecht sitzen konnte und sogar den Luxus einer eigenen Türe hatte!), brachte uns am Sonntag bei strahlendem
Sonnenwetter die knapp 300 Kilometer quer durchs Land zum Tower-Hotel in Harwich, wo unsere Tochter für uns gebucht hatte.
Auf Schritt und Tritt begegneten uns gestrandete Touristen. Wir waren erkennbar, erkannten uns gegenseitig, als hätten wir ein entsprechendes Schild um den Hals wie früher die Kinder, die ohne
Eltern unterwegs waren zur Kinderlandverschickung.
Montag Morgen pünktlich um sechs ging unser innerer Wecker. Der äußere muckte sich überhaupt nicht, das Hotel schob wie bestellt um halb sieben nach. Zwischen Duschen und Resteinpacken brühten
wir uns einen Kaffee auf, zum Frühstücken war keine Zeit zu dieser Zeit. Das Tolle an englischen Hotels ist einfach der Wasserkocher auf jedem Zimmer mit einem reichlichen Sortiment an Kaffee,
Tee und Kakao-Tütchen.
Das bestellte Taxi brachte uns und vorher noch verschiedene andere Touristen in der feuchten Morgenkälte zum Hafen und lud uns am Terminal-Aufzug aus. Hunderte von Menschen bevölkerten die Halle;
die sich bereits gebildete Schlange vor dem Check-in-Schalter war endlos lang. Wir stellten uns geduldig an und gähnten aus tiefster Sohle.
Doch kurz bevor wir umkippen konnten, geriet die Menge in leichte Bewegung. Der Check-in hatte begonnen. Schritt für Schritt schob uns die Menschenwoge vorwärts. Ob es noch Probleme mit dem
PC-Ausdruck geben würde? Auf dem Ticket stand nur der Name unserer Tochter, die gebucht hatte und dann: Two adults. Das waren wir. Allerdings namenlos.
Es gab kein Problem.
Die Wartehalle war knackevoll. Eine Endlosschlange hatte sich auch schon gebildet, der Rest flätzte sich halb schlafend und gähnend auf den Sitzen. Wir stellten uns in der Schlange an.
Irgendwann, nach gefühlten zehn Stunden, tappten wir über den metallenen Zubringer zur Fähre. Drinnen kamen wir wie beim Flieger-Check-in zu einer Art Schalter mit Pass und Ticket-Kontrolle und
Gepäck-Aufgabe. Wir hatten ja nur Handgepäck, sollten wir es einchecken? Ein bisschen überrumpelt, denn damit hatten wir nicht gerechnet, gaben wir unsere zwei Teile weg. Mein Buch konnte ich
gerade noch so eben aus meiner Tasche raus fischen, bevor auch sie banderolisiert in irgendwelchen Tiefen des Schiffes verschwand. Wir waren so müde, als hätten wir nächtelang nicht geschlafen.
Halt! Ich hatte mein Portemonnaie in der roten Tasche! Und den KFZ-Schein! Und- Ogottogott- meinen Personalausweis – und – nee, ich glaub's nicht! - sämtliche Schlüssel!
Was noch? Ich wagte gar nicht, mich genau zu erinnern, was alles ich in diese rote, kleine Reisetasche gepackt hatte, die ich doch gar nicht hatte weggeben wollen!
Weg war sie.
Sieben Stunden Transfer von Harwich bis Hook van Holland. Stunde um Stunde, jede Einzelne endlos lang, sitzen, Augen auf, Augen zu, Essen fassen, Salz suchen, Haufen Geld bezahlen, paar Meter
laufen. Sitzen, Augen auf, Augen zu...…
Neben uns zwei ältliche Lehrerinnen aus Australien, selten von zuhause weg gekommen, Kreuzfahrt- Budapest- Frankreich- Schule hatte schon wieder angefangen- im Notebook keine benötigte Seite
aufrufbar, alles überlastet, Sohn in Melbourne angerufen, im Internet suchen, wo sie hin können, um zurück zu können.
Hunderte von Skandinaviern auf dem Zwischenweg, Deutsche aus Süddeutschland, Österreicher, Schweizer. Alle möglichen Sprachen und Akzente rundherum, die Sorgen alle die gleichen. In allen
Sprachen Wie kommen wir nach Hause?
Dagegen hatten wir diesmal Glück im Unglück. In England eine Tochter, bei der wir wohnen konnten und die für uns Möglichkeiten im Internet suchen und buchen konnte, einen Freund, der uns bequem
stundenlang durch England zur Küste kutschiert hat, ein Hotelzimmer, ein Platz auf der gewünschten Fähre, ein Schwager, der uns in Hook abholen wollte, also, es hätte wesentlich schlimmer kommen
können.
Im Hook von Holland spuckte die Fähre uns aus in den Terminal, der für wesentlich kleinere Passagiermengen vorgesehen war. Hunderte, ganz viele Hunderte, schoben sich Richtung Passkontrolle. Ich
hatte unsere beiden Reisepässe und die Gepäckabschnitte in der Hand. Nirgends ein Hinweis auf Gepäckausgabe.
„Ein Gepäckband“, meinte mein Mann optimistisch, „wie am Flughafen. Ein Gepäckband wird doch wohl noch hinter der Kontrolle sein. Irgendwo muss doch das Gepäck ausgegeben werden.“
Wir passierten die Passkontrolle.
Wir wurden vom Menschenstrom mit gezogen Richtung Ausgang.
Wir sahen in greifbarer Nähe Sonnenschein.
Aber nirgendwo einen Hinweis auf eine Gepäckausgabe. Dafür sahen wir unseren Schwager und seine Tochter auf uns zukommen. Von dort, wo der Terminal zu Ende war, vom Ausgang her.
Und unser Gepäck?
Leicht panisch flogen wir herum. Musterten Mitreisende. Hatten die ihr Gepäck? Oder waren die auch auf der Suche?
Nein, waren sie nicht. Keiner schien besorgt. Wir rannten zurück Richtung Passkontrolle. Wir hatten bestimmt auf dem Schiff die Ausgabestelle irgendwo übersehen. Anders konnte es nicht sein.
Oder?
Wir stoppten Passagiere: „Haben Sie...? Excuse me...? Hebt U...?“
„Draußen, links! – Aber - haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? - Ich suche meine Tochter...“
„Nee, draußen? Wo?“
Wir stürmten raus aus dem Terminal hinein in die spätnachmittägliche Sonne.
„Gepäck? Suchen Sie Ihr Gepäck? – Das haben wir alles draußen auf den Weg gelegt. Aus Platzmangel. Es waren so viele diesmal….“
Wir glaubten unsern Augen nicht zu trauen. Auf dem Gehweg neben der Straße türmte sich das Gepäck von zig hundert Passagieren, und jeder konnte sich nach Belieben irgendwas raus suchen und
mitnehmen. - Passagier oder zufälliger Passant. Kein Schwein kontrollierte die Gepäckabschnitte. Alles und jedes Stück stand zur freien Verfügung wie Tortenstücke in der Kuchenauslage eines gut
sortierten Cafés. Sogar ohne Bezahlung. Meine feuerrote, kleine Tasche fiel sofort ins Auge inmitten all der Gepäckstücke. Ich schnappte sie und kontrollierte sofort, ob all die wichtigen Dinge,
die man normalerweise nicht weggibt, noch vorhanden waren.
Sie waren.
Vom Hook van Holland aus fuhren wir direkt nach Weeze zum Langzeitparkplatz.
Es war gespenstisch. Totenstille hing über dem ganzen Areal. Tausende von PKW mit einer dicken Staubschicht bedeckt, etliche Ryanair-Flugzeuge, säuberlich geparkt mit den markanten Schwanzflossen
in einer Reihe und absolute Ruhe.
Wir waren knapp über eine Woche weg, sagte der Parkautomat. Eine Woche, 11 Stunden, 17 Minuten = 10 € mehr als für eine Woche. Die EC-Karte wollte er nicht. Bargeld hatten wir nicht mehr genug.
Aber –Halleluja! Er akzeptierte die Kreditkarte (ohne Pin!)
Wir hatten es geschafft. Wir waren zurück in Deutschland. Wir konnten in unser Auto steigen und nach Hause fahren.
Aber all die anderen? Wie viele Schicksale mochten sich allein hinter all diesen tausenden von langzeitgeparkten Autos verbergen?
Wir hatten ganz viel Glück im Unglück. Verglichen mit den anderen, die wir getroffen und gesprochen haben.
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